Beitrag des Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Gernot Erler vor der SPD-Bundestagsfraktion am 18. September 2001 zu den Ängsten in der Bevölkerung über mögliche Folgen der Terroranschläge

Liebe Genossinnen und Genossen!

Mehrere von Euch sind erschrocken über bestimmte Äußerungen, die man jetzt in der amerikanischen Politik hört. Ich teile dieses Erschrecken. Aber ich bitte Euch, sich die Sache genauer anzuschauen. In Wirklichkeit haben wir im Augenblick eine Aufteilung in der amerikanischen Politik. Auf der einen Seite gibt es sehr harte Worte, die sich eindeutig auch an die Gemütsverfassung der amerikanischen Öffentlichkeit und der amerikanischen Bürger richten, und auf der anderen Seite ein völlig anderes praktisches Handeln. Ich bin nicht böse über diese Aufteilung, weil sie im Endergebnis zu etwas Vernünftigem führen kann.

Ich war letzte Woche nicht sicher, ob nicht innerhalb weniger Stunden nach dem Anschlag Städte wie Tripolis, Bagdad, Khartum und Kabul bombardiert werden. Ich glaube nicht, dass dies weltweit zu irgendwelchen dramatischen Reaktionen geführt hätte, weil man gesagt hätte, das ist der Befreiungsschlag der verwundeten Großmacht USA. Wir alle begrüßen, dass dieser Befreiungsschlag so nicht stattgefunden hat. Wir haben statt dessen bemerkt, das die amerikanische Seite wirklich versucht, ein sehr breites politisches Bündnis, eine große Allianz gegen den Terrorismus zu schließen. Auch die USA erwarten nicht, dass mit irgendeiner militärischen Aktion das Problem gelöst wird, sondern sie sprechen von jahrelangem, ja von jahrzehntelangem Kampf mit dem Terrorismus auf allen Ebenen. Auf der politischen, auf der ökonomischen und auf der militärischen Ebene. Das ist letztendlich beruhigend, und nicht jene fälschliche Illusion, die übrigens die amerikanische Politik früher schon einmal hatte, dass sie nämlich mit einem demonstrativen Militärschlag solche Probleme lösen könnte. Das ist beruhigend, und wir müssen die Amerikaner darin bestärken und natürlich dabei zur Verhältnismäßigkeit und zur Übersicht und zum Nachdenken mahnen.

Aber wir haben nicht nur das Recht und die Aufgabe zu horchen, was in der Bevölkerung für Stimmen sind - und da ist Kriegsangst vorhanden -, sondern wir haben auch die Pflicht, aus unserer Einsicht Antworten zu geben. Manche, die ich auf der Straße höre und von denen ich Briefe erhalte, von Schülern und von Leuten aus der Friedensbewegung, äußern sich so, als ob die Katastrophe jetzt bevorsteht, als hätte es bisher gar keine gegeben. Aufgrund meiner Erfahrungen und Beschäftigungen mit Weltpolitik glaube ich, dass wir überhaupt nicht überschätzen können, welche Katastrophe am 11. September passiert ist. Es handelt sich um einen Triumph für eine bestimmte Form, Gewalt gegen einen Stärkeren anzuwenden. Es sind nicht nur die Symbole Amerikas getroffen worden, sondern die Demütigung besteht darin, dass durch die Art der Inszenierung die amerikanischen Medien gezwungen worden sind, diese Demütigung bis in die letzten Winkel der Erde zu verbreiten. Eine schlimmere Demütigung kann man sich gar nicht vorstellen. Das Entscheidende ist aber nicht die Demütigung. Das Entscheidende ist, dass es ein Triumph ist; ein Triumph für diejenigen, die das ausgedacht und vorbereitet haben.

Was meint Ihr wohl, was passiert, wenn darauf keine Antwort erfolgt? Könnt Ihr das überhaupt verantworten, zu sagen, wir wünschen uns, dass keine Antwort kommt? Ich weiß, dass nicht Ihr das tut, aber ich bekomme solche Briefe, deren Verfasser sich wünschten, dass gar nichts passiert und am besten Seminare veranstaltet werden. Aber ich kann nur hervorheben, dass die Gefahr wächst und nicht geringer wird. Wenn dieser Triumph so stehen bleibt, dann werden wir morgen andere Ziele haben und dann werden die Attentäter Zulauf bekommen. Man ist gerne bei der Partei, die gewinnt, und bei der, die Erfolg hat. Deswegen halte ich es aus politischen- und sicherheitspolitischen Gründen für notwendig, dass hier auch eine direkte Antwort erfolgt, dass die Täter und alle, die sich das ausgedacht haben, erwischt werden.

Das bedeutet, dass die Betreffenden auch mit militärischen Mitteln, wenn dies nicht anders geht, zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist der eigentliche Kern der UNO-Resolution. Diese ist ja geradezu sensationell, weil sie die Erkenntnis unterstreicht, was eine solche Entwicklung für die Weltordnung bedeutet, wenn dieser Triumph so stehen bleibt, wenn er dazu führt, dass terroristische Gewalt auch anderswo als Druckmittel benutzt wird und Zulauf erfährt, weil es ja der Triumph ist, an dem man dann gerne weiter Teil hat. Das sind die notwendigen Antworten, die wir auch gegenüber den Ängsten formulieren müssen, wenn diese sich allein auf das richten, was noch kommen könnte.

Es gibt gute Anzeichen dafür, dass wir eine Chance haben, hier eine Eskalation zu vermeiden. Meine größte Sorge ist im Augenblick, und offenbar haben die Amerikaner die gleiche Sorge, dass sie unter einem wahnsinnigen Erfolgsdruck scheitern könnten. Das, was sie tun, muss erfolgreich sein. Eine Woche oder zehn Tage danach reicht es nicht aus, Handlungsfähigkeit zu beweisen. Stellt Euch vor, irgendeine Aktion schlägt fehl. Aber was bedeutet das für die Weltordnung, wenn hier die stärkste Militär-, und im Sinne dieser Weltordnung auch Ordnungsmacht - so ist sie bisher jedenfalls aufgetreten - vorgeführt wird und dabei fehltritt? Wenn sie es nicht schafft, darauf überzeugend zu reagieren, im Sinne, dass dieser Triumph wieder egalisiert wird? Ich kann mir das nur schwer vorstellen, was das bedeutet, und ich finde, wir müssen in einen solchen Diskurs mit der besorgten Öffentlichkeit, mit den Leuten gehen, die gar nicht das Gefühl haben, dass da etwas Schreckliches passiert sei, sondern das Schreckliche eigentlich noch bevorstünde.

Ich verdeutliche noch einmal, die Krise, der Ernstfall ist bereits da, er kommt nicht erst bei einer Eskalation. Wir müssen deutlich machen, dass das Schlimme nicht erst kommt, sondern dass es uns schon jetzt vor eine enorme Herausforderung stellt.

Ich danke Euch für Eure Aufmerksamkeit.