Rede Gernot Erlers in der 187. Sitzung des Deutschen Bundestages am Mittwoch, den 19. September 2001: Abgabe einer Regierungserklärung: Terroranschläge in den USA und Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sowie der NATO

Terroranschläge in den USA und Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sowie der NATO

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Terrorakte vom 11. September sind eine einzige große Herausforderung - gemessen an der Zahl der Opfer, gemessen an dem Umfang der Zerstörungen, gemessen an der Symbolkraft der Ziele, gemessen an der Inszenierung, die die Medien der Vereinigten Staaten zwang, die eigene Verwundung abzubilden und in die ganze Welt zu versenden, gemessen auch an dem Umstand, dass die Täter womöglich noch in der Selbstgewissheit des Gelingens ihrer Untat diese mit spekulativen Börsengewinnen verbunden haben.

Es gibt kein erkennbares, definierbares Ziel dieser Anschläge, nein es handelt sich um die Herausforderung an sich. Wir erkennen, dass uns die Verwundung und die Demütigung der stärksten Macht innerhalb der Weltgemeinschaft als rein zerstörerischer Selbstzweck ge gen übertritt. Diese Herausforderung hat eine ungeheure Spannung über die ganze Welt gelegt. Sie hat Amerika und die ganze Weltgemeinschaft mit hinein in eine sehr ernste Bewährungsprobe gestellt. Wir alle stehen mitten in dieser Prüfung: die Bundesregierung, die Landesregierungen, der Bundestag, unsere Sicherheitsorgane, die seit einer Woche Enormes leisten, bis an die Grenze der Belastbarkeit gehen und denen wir dafür Dank und Vertrauen aussprechen müssen, aber auch jeder Einzelne.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorgelegte Entschließungsantrag vergewissert sich noch einmal der Empfindungen, die wir in dieser Woche ge teilt haben, und der Schritte, die wir in diesen sieben Tagen gemeinsam gegangen sind. Eigentlich ist der Entschließungsantrag die kürzeste Zusammenfassung dieser Tage nach dem Schock. Da ist die Rede von "Bewunderung": ein seltenes Wort in der parlamentarischen Arbeit, aber ehrlich gemeint. Sie bezieht sich auf die menschliche Antwort, die Amerika auf die eigene Verwundung gegeben hat, auf dieses Aufbäumen der amerikanischen Gesellschaft, für das exemplarisch Bürgermeister Giuliani richtige Worte fand, und auf diese tausendfache spontane Hilfsbereitschaft und die Zeichen von Menschlichkeit. Das ist eine eindrucksvolle Antwort, die beste Antwort auf die brutalen, menschenverachtenden Gewalttaten gewesen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Entschließungsantrag würdigt auch die ungezählten spontanen Gesten in Deutschland: in jedem Dorf, in jeder Stadt, bei jedem Zusammen treffen von Menschen in diesen Tagen. Diese haben von den Menschen her eine Verbundenheit und Anteilnahme demonstriert, die - das müssen wir bekennen - keiner von uns durch noch so gut gewählte Worte hätte zum Ausdruck bringen können. Ich kann nur sagen: Das hat gut getan - uns, aber auch denen, denen diese Zeichen gelten.

Der Entschließungsantrag würdigt auch die politischen Reaktionen in dieser Woche nach der Herausforderung: die bemerkenswerten Beschlüsse der Vereinten Nationen, die Beschlussfassung der Allianz und das, was Bund und Länder zum Schutz aller Bürger in unserem Land im Inneren getan haben und tun werden.

Alle diese Maßnahmen konnten aber eines nicht verhindern: Nach all den Zeichen der Anteilnahme und Verbundenheit verbreitet sich doch um uns herum jetzt Angst aus vor dem, was kommen könnte. Es ist die Angst vor dem Krieg; sie schlägt sich in jeder Diskussion, in zahlreichen Anrufen, Briefen und Appellen nieder, die uns Abgeordnete täglich erreichen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere Pflicht, diese Angst ernst zu nehmen - und wir tun das; ich versichere das. Es ist aber auch unsere Pflicht als Abgeordnete, Antworten in der Sache auf diese Sorgen und Befürchtungen zu geben. Ich will das ein Stück weit versuchen und dabei auch zeigen: Es gibt auch Hoffnung. Ich wende mich der politischen Reaktion in den Vereinigten Staaten zu. Hätten wir überrascht sein können, wenn die verwundete Großmacht noch mitten im ersten Schmerz ausgeteilt hätte, sozusagen einen zwangsweise ungenauen Befreiungsschlag geführt hätte? Ich bin froh, dass es nicht passiert ist.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Wir hören jetzt einige Worte, die uns erschrecken, auch wenn wir ihre nach innen gerichtete Funktion erkennen. Entscheidend ist aber: In der Praxis, faktisch, passiert etwas ganz anderes. Wir sind Zeuge der Bildung eines breiten Bündnisses, einer großen Allianz gegen den Terrorismus, die auf Dauer angelegt ist, die Russland, China und auch arabische und islamisch orientierte Staaten einbezieht, ja sogar solche, bei denen hiermit eine Umkehr verbunden sein könnte. Diese große Allianz ist keine, die sich zum Krieg hinwendet, sondern eine, die auf umfassende politische, diplomatische, ökonomische und kulturelle Mittel setzt. Wir sagen ganz entschieden: Das ist der richtige Weg. Wir unterstützen diesen Weg. Es gibt uns Hoffnung, dass Amerika in diesem Moment der Erschütterung die Umsicht und die Kraft zeigt, diesen Weg einzuschlagen.

Wir wollen, dass diese große Allianz gegen die Geißel der Gewaltanwendung und des Terrorismus von Dauer ist. Wir wollen aber auch noch etwas anderes: Die Stunde einer großen Gefahr ist manchmal auch die Geburtsstunde einer großen Vision, einer umwälzenden Erinnerung. Er selbst und seine schwarzen Brüder und Schwestern in Amerika waren in größter Bedrängnis, als Martin Luther King unter dem Motto "I have a dream" die Konturen einer besseren Gesellschaft, einer besseren Welt zeichnete. Dieser Traum hatte nachhaltige politische Auswirkungen. Wir haben die Chance, aus der Allianz gegen etwas - gegen den Terrorismus -, die sich jetzt bildet, eine Allianz für etwas zu machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir müssen eine umfassende Umkehr heraus aus der Gewaltanwendung in der internationalen Politik organisieren. Jede bessere Weltordnung beginnt mit diesem Weg, mit dieser Entscheidung. Der Schreck, der uns allen in die Glieder gefahren ist, muss neue Kräfte für diese Umkehr wecken. Deswegen ist es in der Tat ein Zeichen der Hoffnung, dass Yassir Arafat jetzt und gerade jetzt einen umfassenden einseitigen Waffenstillstand ausgerufen hat und dass die israelische Regierung mit dem Stopp aller offensiven militärischen Aktionen geantwortet hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Eine Antwort auf die Kriegsangst ist also aufzuzeigen: Es gibt Hoffnung. Es gibt gute Ansätze. Wir sind entschlossen, diese zu verfolgen. Aber es gibt für uns als Abgeordnete noch eine andere Pflicht. Wir müssen denjenigen, die Angst vor dem Schlimmen haben, das noch passieren kann, klarmachen, dass etwas sehr Schlimmes, etwas sehr Gefährliches schon passiert ist. Der Ernstfall ist schon da. Er lauert nicht erst vor der nächsten Tür. Dieser Ernstfall ist am 11. September eingetreten.

Dieser Triumph der Gewalt und diese Verhöhnung aller Gebote internationalen und menschlichen Zusammenlebens dürfen so nicht stehen bleiben, dürfen keinen Bestand haben. Sie müssen auch eine direkte Beantwortung finden. Die Vereinten Nationen wissen, warum sie eine umfassende internationale Anstrengung verfolgen, um die Täter zu stellen und zu bestrafen und die, die sie schützen und unterstützen, zur Rechenschaft zu ziehen. Das ist keine moralische Frage, sondern eine sicherheitspolitische Frage. Die Vereinten Nationen haben mit der Formel "Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" ihr Signal für die höchste Alarmstufe gegeben.

Wenn dieser Triumph der Gewalt Bestand hat, dann wird das Beispiel Schule machen, dann wird es Zulauf zu den Netzen des Terrorismus geben, dann wird es neue Anschläge geben, dann werden der Hydra der menschenverachtenden Gewaltaktionen tausend Arme wachsen. Das dürfen wir nicht zulassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Problem besteht jetzt darin, verschiedene Dinge miteinander zu verknüpfen: die Täter zu stellen und sie zu bestrafen, ihre Netze unter Druck zu setzen, ihren Triumph zu vereiteln - aber das alles so, dass diese große Allianz, die ich erwähnt habe, Bestand hat.

Ich habe am Tag nach den Attentaten eine E-Mail von Dale Fuller erhalten, einem 21-jährigen amerikanischen Studenten, der zehn Monate als Praktikant in meinem Büro gearbeitet hat. Er hat seinen Bericht darüber, wie er in Minneapolis diesen Tag erlebt hat, mit folgenden Sätzen beschlossen:

"Ich hoffe, dass Gott uns allen hilft und dass es keinen Krieg gibt. Aber wir müssen etwas gegen diese Terroristen machen. Denkt an uns in Amerika! Unsere Herzen und unser Land sind verletzt."

Das sind einfache Worte. Sie umschreiben aber die ganze Komplexität unserer Aufgaben. Wir müssen die Täter stellen. Wir müssen etwas gegen den Terrorismus machen. Wir müssen dem verwundeten Amerika helfen. Aber wir müssen gleichzeitig den Krieg verhindern und diese große Allianz bewahren.

Politik ist manchmal sehr schwer. Aber ich sage all denen, die jetzt Befürchtungen und Angst haben: Wir bitten euch um Vertrauen und wir bitten euch auch darum, uns bei dieser schwierigen Aufgabe zu begleiten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)