Rede Gernot Erlers in der 225. Sitzung des Deutschen Bundestages am 15. März 2002: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Elfter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Elfter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist erst das zweite Mal, dass sich der Deutsche Bundestag auf der Grundlage einer Regierungserklärung über Entwicklungspolitik unterhält. Das sollte eigentlich ein Höhepunkt der entwicklungspolitischen Debatte sein. Ich muss leider feststellen, Herr Kollege Hedrich, dass Sie diesem Anspruch nicht gerecht geworden sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der SPD: Nur kleinklein!)

Die Art und Weise, wie Sie hier kleinkariert, buchhalterisch, ja geradezu provinziell Ihre Rede gestaltet haben,

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

führt wirklich dazu, dass ich sagen muss: Ich kann nur hoffen, dass möglichst wenig Menschen, die Erwartungen an uns haben, das gehört haben, denn mit einer solchen personifizierten Lustlosigkeit und dem Missmut, den Sie hier ausstrahlen, werden Sie in der Politik niemanden und nichts erreichen.

(Beifall bei Abgeordneten der SP D - Zuruf von der CDU/CSU: Schwachsinn!)

Der Zeitpunkt für diese Debatte ist gut gewählt: drei Tage vor der UN-Konferenz für Entwicklungsfinanzierung von Monterrey und sechs Monate nach dem 11. September. Diese sechs Monate kennzeichnen einen Lernprozess, den wir durchmachen mussten. Wir haben gelernt, dass der 11. September kein Einzelereignis ist, sondern eine neue Dimension globaler Herausforderung, die natürlich eine direkte militärische Anwort erforderte, auch um eine Wiederholung unmöglich zu machen. In diesen sechs Monaten haben wir aber auch gelernt, dass diese Form der Antwort allein in der Zeitperspektive nicht ausreicht.

(Zustimmung bei der SPD)

Wir brauchen eine zentrale Antwort in globaler Strukturpolitik. Das heißt nicht weniger, als dass die Erkenntnis nach diesen sechs Monaten ist: Entwicklungspolitik ist präventive Sicherheits- und Friedenspolitik und muss auch als solche angelegt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Dazu brauchten wir aber nicht die letzten sechs Monate! Das sagen wir seit Jahren!)

In den letzten sechs Monaten hat es eine Umwertung dieses politischen Feldes gegeben. Bisher - das müssen wir doch zugeben - ist Entwicklungspolitik eine Art Nische gewesen, und zwar eine Nische, in der sich moralisch-ethisch orientierte Politiker ohne große öffentliche Beachtung bewegt haben. Gelegentlich wurde das belächelt als Politik für Gutmenschen. Heute müssen wir feststellen: Entwicklungspolitik ist in den Kernbereich von Sicherheitspolitik gerückt und erfordert deswegen eine völlig andere Beachtung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Lesen Sie mal meine Reden von vor 10 Jahren! Da habe ich das schon gesagt!)

Zum Glück fangen wir hier in Deutschland nicht bei Null an. Das zeigt schon die Kurzformel, mit der die Ministerin heute den Elften entwicklungspolitischen Bericht vorgestellt hat. Sie lautet: Armut bekämpfen, Globalisierung gestalten, Frieden sichern. Das ist, auf die kürzeste Formel gebracht, der Anspruch, Entwicklungspolitik als präventive Friedenspolitik zu gestalten. Das ist in den letzten dreieinhalb Jahren der rot-grünen Regierungsarbeit nicht etwa nur Formel oder Anspruch geblieben. Die Brücke von der Entwicklungspolitik zur Friedenspolitik ist zum Glück schon beschritten worden, und zwar mit dem Aufbau eines zivilen Friedensdienstes, mit der Kölner Entschuldungsinitiative, die insgesamt 70 Milliarden Dollar bewegen wird, mit dem Programm der globalen Armutsbekämpfung, das Sie, Herr Kollege, völlig unzureichend angesprochen haben,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

sowie mit der Beteiligung an globalen Gesundheitsfonds und dem Zentrum der Aidsbekämpfung, nachdem Aids geradezu eine Entvölkerungsseuche in Afrika geworden ist. Die besagte Brücke ist auch mit den regionalen Ansätzen beschritten worden, sei es für die AKP-Staaten mit dem Cotonou-Abkommen, in Afrika mit dem G-8-Programm NEPAD, auf dem Balkan mit dem Stabilitätspakt oder in Afghanistan, wo es nicht nur gelang, sehr kurzfristig humanitäre Hilfe anzubieten und tatsächlich zu leisten, sondern wo sich die Bundesregierung auch für die nächsten vier Jahre auf ein Programm in Höhe von 320 Millionen Euro verpflichtet und - das ist noch viel wichtiger - mit dem 100-Tage-Programm schon konkret Mittel zur Verfügung gestellt hat.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass dies alles auf den Weg gebracht wurde, und zwar größtenteils vor dem 11. September. An dieser Stelle erscheint mir die Feststellung angebracht, dass dahinter ein enormer Arbeitsaufwand der vielen Beschäftigen im Bundesministerium und der Ministerin selber steht. Dafür möchte ich an dieser Stelle herzlichen Dank sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Diese Debatte fällt auch mitten in eine Diskussion über die notwendige zweite Phase im Antiterrorkampf. Es gibt Lehren aus dem 11. September. Wir wissen jetzt, dass es Köpfe voller Hass, Verirrung, Verwirrung und auch voller zerstörerischer Fantasie gibt. Aber richtig gefährlich werden diese Köpfe erst, wenn die Beine dazukommen, nämlich durch den Zulauf von Menschen, die ebenfalls Aussichtslosigkeit, Demütigung und Hass zum Motor ihrer Bewegung machen. Wir können nicht alle Köpfe verlässlich erreichen. Deshalb besteht die wichtigste Aufgabe darin, den Zulauf zu verhindern. Das bedeutet nicht weniger als die Herausforderung einer neuen Dimension von Prävention. Die Europäer und mit ihnen die Deutschen haben in letzter Zeit einen Lernprozess durchgemacht. Wir haben es nicht vermocht, vier blutige Kriege auf dem Balkan zu verhindern. Wir haben das auch als ein Versagen der Prävention angesehen. Im vergangenen Jahr ist es - so scheint es - am Beispiel Mazedonien zum ersten Mal gelungen, durch ein gemeinsames, abgestimmtes Auftreten der Europäer eine weitere Katastrophe - in diesem Fall einen Bürgerkrieg in Mazedonien - zu verhindern. Das heißt, Europa und wir haben dazugelernt, was die regionale Prävention angeht. Das wird vielleicht als erster Fall einer erfolgreichen Anwendung regionaler Prävention in die Zeitgeschichte eingehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber dann kam der 11. September und wir haben gemerkt, dass das, was wir an Lektionen für regionale Prävention gelernt haben, dafür nicht anwendbar war. Dabei handelte es sich um eine neue Dimension der Herausforderung, die auch eine neue Dimension der Antwort erforderte. Wir stehen vor nichts anderem als einem neuen Lernprozess hinsichtlich dessen, was strukturelle und globale Prävention bedeutet. Das fängt jetzt erst an und es ist völlig klar, dass im Zentrum dieser strukturellen und globalen Prävention eine globale Steuerungspolitik - das heißt: Entwicklungspolitik - stehen muss. Manche Leute meinen, Afghanistan sei ein Modell. Das stimmt auch. Militärisch war es erfolgreich; insofern kann man das bejahen. Aber gleichzeitig ist klar: Die serienmäßige Anwendung dieses Modells ist unmöglich und nicht machbar.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angelika Köster-Loßack [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Kofi Annan hat uns vor wenigen Tagen in diesem Hause die Botschaft mitgegeben, dass Afghanistan ein langfristiges Engagement braucht. Er hat uns den Begriff "sustainable peace" - nachhaltige Friedenssicherung -vorgestellt und wir können hier sicherlich alle feststellen, dass wir uns dazu bekennen. Wir wissen, wie lange wir uns dort engagieren müssen und wie viel wir in die Aufgabe der Friedenssicherung in dieser Region investieren müssen. Das bedeutet aber auch, dass Afghanistan ein neues Versorgungsprotektorat darstellt, das uns lange beschäftigen wird. Wir Deutsche sind jedoch bereits in einigen anderen Regionen langfristig engagiert, zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in gewisser Weise auch in Mazedonien. Es ist völlig klar, dass diese Art von Schaffung immer neuer Versorgungsprotektorate in der Weltpolitik keine dauerhafte Stabilisierung bringen kann. Das kann nicht der Weg sein, mit dem wir eine globale Umverteilung organisieren können. Es handelt sich nämlich um eine Umverteilung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist aber eine erzwungene, eine postinterventionistische Umverteilung. Das geht nicht. Die Herausforderung ist, eine ganz andere Form der Umverteilung - das ist die Aufgabe der Entwicklungspolitik - zu finden, nämlich eine politisch gestaltete, präventive Umverteilung. Um das zu erreichen, müssen wir in der Tat die Instrumente anwenden, die im Elften Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung aufgezählt sind und die von der Entschuldung über die Entwicklungspartnerschaft mit der Industrie, die faire Gestaltung der Terms of Trade und des Handels, das Bemühen, allen Produkten aus der Dritten Welt den Marktzugang zu ermöglichen, bis hin zur Erhöhung der offiziellen Entwicklungsfinanzierung reichen. Deswegen ist es wichtig - dazu liegt ja auch ein Antrag vor -, dass die in drei Tagen beginnende UN-Konferenz in Monterrey über die Entwicklungsfinanzierung ein Erfolg wird. Wir wünschen und fordern diesen Erfolg.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Erfolg kann doch nur heißen - hier muss man der Ministerin zustimmen -, dass sich die Industrieländer auf dieser Konferenz tatsächlich verbindlich darauf verpflichten, einen höheren Anteil ihrer Bruttoinlandsprodukte für Entwicklungsaufgaben zur Verfügung zu stellen. Dieser Anteil darf nicht auf dem bisherigen Niveau stagnieren. Es muss wenigstens das vereinbarte Zwischenziel beschlossen werden, nämlich dass jedes Industrieland bis 2006 mindestens 0,33 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für die Entwicklungshilfe zur Verfügung stellt. Das erwarten wir. Das ist sozusagen das Gepäck, mit dem unsere Delegation dorthin fährt. Wir brauchen deswegen auch den Erfolg des zweiten wichtigen entwicklungspolitischen Ereignisses in diesem Jahr, nämlich des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung, der Ende August/Anfang September in Johannesburg stattfinden wird. Wir als Abgeordnete verpflichten uns, diesen Gipfel sorgfältig und kreativ vorzubereiten. Wir gehen davon aus, dass auch die Bundesregierung dazu bereit ist. Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Ich habe vorhin gesagt, dass die europäischen Fähigkeiten im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der letzten Zeit tatsächlich ein Stück vorangekommen seien, dass es Fortschritte gegeben habe und dass sich Chancen entwickelten. Aber ein Defizit muss man leider feststellen: Es gibt bisher keine europäische Dimension der Entwicklungszusammenarbeit. Diese ist noch nicht sichtbar. Sie ist aber notwendig. Gerade in der jetzigen Phase, in der wir über eine zweite Stufe des Antiterrorkampfes diskutieren und auch streiten, ist es notwendig zu erklären - ich kündige das für meine Fraktion an -: Wir werden mit jedem, der das will, zusammenarbeiten und große Anstrengungen unternehmen, dass die neuen Erkenntnisse im Hinblick auf die Bedeutung der Entwicklungspolitik, die wir auf nationaler Ebene gewonnen haben, zu einem europäischen Programm führen werden. Es reicht nicht, dass wir auf europäischer Ebene nur militärische und politische Fähigkeiten aufbauen. Es muss auch eine neue Dimension der europäischen Entwicklungspolitik geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ein solches Signal sollte von dieser Debatte ausgehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)