Rede Gernot Erlers in der 4. Sitzung des Deutschen Bundestages am 29. Oktober 2002: Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit anschließender Aussprache.

Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit anschließender Aussprache

Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internationale Politik ist nicht mehr etwas Fernes, von der Innenpolitik Abgetrenntes. Internationale Politik hat Auswirkungen auf unser Alltagsleben, sie dringt regelrecht in unsere Lebenswelt ein. Das haben wir mehr als bisher nach dem 11. September, bei den Vorgängen auf Djerba, in Bali und jetzt bei der Tragödie in Moskau erfahren. Dies hat uns gelehrt: Globalisierung spielt sich nicht nur auf den Finanzmärkten und in der Ökonomie ab; Globalisierung heißt auch: Kein Konflikt auf dieser Welt ist mehr so fern, dass er uns unberührt lässt. Jeder Konflikt kommt in irgendeiner Weise bei uns an, kann unsere Sicherheit beeinträchtigen, kann uns sogar zu einem anderen Leben zwingen. Die Trennung von Innen- und Außenwelt wird tendenziell gegenstandslos. Sie hebt sich von allein auf.

In den nächsten vier Jahren wird viel davon abhängen, ob wir in unserem Denken und Handeln mit dieser Entwicklung Schritt halten. Herr Kollege Schäuble, es tut mir Leid, dies sagen zu müssen: Mit dem Auskippen eines Zettelkastens, in dem nur die Schablonen des Wahlkampfs enthalten sind, werden Sie diesem Anspruch von Politik wirklich nicht gerecht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir, die SPD-Bundestagsfraktion und die Koalition, werden uns der Aufgabe stellen, die Innovationsforderung über die Gesellschaftspolitik hinaus auch für die internationale Politik zu stellen, und zeigen, dass wir dieser Herausforderung gerecht werden. Hier fangen wir nicht bei Null an. In den letzten Jahren hat es in Europa bereits wichtige Lernprozesse gegeben. So wissen wir, dass Europa in der Praxis eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik braucht und auch Instrumente, sowohl zivile als auch militärische, um diese Politik umzusetzen.

Mit Trauer und Zorn blicken wir darauf zurück, dass Europa nicht imstande war, in den der 90er-Jahren vier blutige Kriege auf europäischem Boden zu verhindern. Aber Europa hat die Kraft zu einer umfassenden Integrationsstrategie entwickelt: mit dem Instrument des Stabilitätspakts für Südosteuropa und mit der Stabilisierungs- und Assoziierungsstrategie gegenüber den Ländern, die bisher nicht an dem europäischen Integrationsprozess teilgenommen haben. Im Fall Mazedoniens gelang schließlich erstmals die Verhinderung einer weiteren blutigen Katastrophe in unserer Nachbarschaft. Das war der Erfolg einer Präventionspolitik, die primär auf Diplomatie, auf Verhandlungen, aber ohne Ausschluss einer Sicherheitskomponente, setzte. Wir haben in der letzten Woche darüber gesprochen. Herr Kollege Schäuble, wenn ich Sie noch einmal ansprechen darf: Ich habe, ehrlich gesagt, nicht begriffen, warum letzte Woche vier Kollegen aus Ihren Reihen mit Nein gestimmt und sich sechs der Stimme enthalten haben, als es darum ging, diese wichtige und erfolgreiche Mission fortzusetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mitten in den Erfolg einer regionalen Prävention, wie sie in Mazedonien stattgefunden hat, platzte dann der 11. September 2001. Dies war ein Schock nicht nur wegen der Zahl der Opfer, sondern auch, weil die bisherigen Antworten für diese Herausforderung neuer Dimensionen offensichtlich ungeeignet waren. So waren die 13 Monate nach dem 11. September ein neuer, schwieriger Lernprozess für uns alle. Ich behaupte, dass sich bei der Beantwortung der Herausforderungen der Nach-September-Welt allmählich so etwas wie ein europäisches Modell für eine neue internationale Politik herausstellt, durchaus in Parallele zu jenem europäischen Gesellschaftsmodell, von dem heute Vormittag der Bundeskanzler gesprochen hat.

Das Nachdenken über ein solches europäisches Modell ermöglicht uns auch eine bessere Einordnung bestimmter aktueller Dissenspunkte in der internationalen Politik. Ich bin sicher, hinter dem internationalen Ringen darüber, ob es richtig ist, jetzt mit militärischen Mitteln das Regime Saddam Hussein zu beseitigen, steckt mehr als eine unterschiedliche Bewertung in einer Einzelfrage. Hier geht es letztlich um die Grundausrichtung der internationalen Politik in der Nach-September-Welt. Dabei gibt es viele transatlantische Gemeinsamkeiten - ich begrüße das -, aber eben auch einige besondere europäische Ansätze, für die wir werben und die es in unseren Augen wert sind, diskutiert zu werden. Ich sehe in diesem Zusammenhang fünf wichtige Komponenten des europäischen Modells:

Als Erstes ist die Notwendigkeit der weiteren unmittelbaren Verfolgung der Mitglieder von Terrornetzwerken zu nennen. Es hat hier ja Erfolge gegeben, auch militärische. Wir müssen aber feststellen: Die Netzwerke sind immer noch handlungsfähig. Wichtige Führer wie Bin Laden und Mullah Omar sind immer noch nicht gefasst. Deswegen haben im europäischen Modell die Aufrechterhaltung und Stärkung der großen politischen Koalition gegen den Terrorismus höchste Priorität. Diese ist, Herr Schäuble, eben nicht nur eine transatlantische Veranstaltung, sondern bezieht ihre Wirksamkeit gerade daraus, dass die große Mehrheit der arabischen und moslemisch geprägten Staaten daran teilnimmt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist notwendig, die Arbeitsfähigkeit dieser großen Koalition zu erhalten. Weiterhin brauchen wir die Zusammenarbeit der Polizei und der Dienste und auch militärische Zusammenarbeit. Jede Gefährdung dieser Koalition, egal wodurch, gefährdet auch den Erfolg im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.

Die zweite Komponente, die ich hier nennen möchte, kann man mit dem Stichwort "Testfall Afghanistan" beschreiben. Afghanistan ist ein exemplarischer Fall. Afghanistan entscheidet darüber, ob wir bei den Menschen Vertrauen gewinnen, die gegen Taliban und al-Qaida aufgestanden sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das deutsche Engagement in Form von humanitärer Hilfe, beim Post-Taliban-Prozess in Form der Petersberg-Konferenz und jetzt vor Ort beim Wiederaufbau, beim Bau von Schulen, bei der Schaffung von Voraussetzungen für Gleichberechtigung, beim Bau einer Polizeiakademie und bei der dort schon angelaufenen Ausbildung von Polizisten, das finanzielle und militärische Engagement bei ISAF - all das machen wir nicht planlos, sondern dahinter steckt die Überzeugung, dass wir diesen Testfall gewinnen müssen. Dahinter steht die Einsicht, dass das richtig ist, was uns an dieser Stelle hier Kofi Annan, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, über nachhaltige Friedensstrategien, über "sustainable peace", gesagt hat. Afghanistan ist der Testfall. Deswegen hat es aus unserer Sicht oberste Priorität, diese Mission zum Erfolg zu führen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die dritte Komponente besteht in der neuen Einsicht, welche Bedeutung regionalen Konflikten zukommt. Joschka Fischer hat hier schon über den Nahen Osten gesprochen. Bin Laden hat sich ja immer auf die Demütigung der Palästinenser bezogen, wenn er irgendeine Legitimation für sein Handeln anführen wollte. Der Kaschmir-Konflikt ist erwähnt worden. Man könnte hinzufügen, dass uns in den letzten Tagen noch einmal in Erinnerung gebracht und deutlich gemacht worden ist, welche Gefahren von dem ungelösten Tschetschenien-Konflikt ausgehen. Aber all diese Konflikte sind doch nicht nur auf terroristische Gewalt zurückzuführen, sondern aus ihnen gehen auch zu allem bereite terroristische Potenziale hervor. Deshalb muss es oberste Priorität in der internationalen Politik sein, diese regionalen Konflikte zu analysieren und zu lösen. Es dürfen nicht neue Schauplätze eröffnet werden, sondern dort muss mit dem Kampf gegen den Terrorismus angefangen werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die vierte Komponente des europäischen Modells stellt die Einsicht dar, welche bedeutende Rolle der regionalen Stabilität zukommt. In Amerika sind Forscher zu der Erkenntnis gekommen, dass "failing states", "failed states" und No-go-Areas - das heißt, das Verschwinden von staatlicher Autorität auf großen Teilen unseres Globusses - die Privatisierung von Gewaltanwendung und Rechtlosigkeit zur Folge haben und im Grunde genommen die Voraussetzung für die Entwicklung von Terrorismus darstellen. Deswegen ist ein solches Verschwinden von staatlicher Kontrolle schon aus sicherheitspolitischen Gründen nicht hinnehmbar. Die Antwort muss doch sein, dass wir uns mehr bei der Etablierung von Stabilitätsregimen engagieren. Wir haben unsere Erfahrungen damit auf dem Balkan gemacht; ich habe den Stabilitätspakt schon angesprochen. Das Gleiche ist notwendig in der Region Afghanistan, in der Region Kaukasus, in Zentralasien und ganz besonders in Afrika. Wir haben doch nicht vergessen, was 1993 in Somalia passiert ist. "Restore Hope" hieß die Mission dort. Dann, ganz plötzlich, nach einigen Verlusten, zog sich nicht nur Amerika, sondern die ganze westliche Welt zurück. Heute ist das genau eine solche Region eines "failing state" und wir wissen ganz genau, dass dort die gefährlichsten Entwicklungen ablaufen. Deswegen wird ja auch darüber diskutiert, dort militärisch zu intervenieren. Das zeigt, welche Bedeutung regionale Stabilitätsregime im Kampf gegen den Terrorismus haben.

Schließlich die fünfte Komponente: Kampf um eine gerechtere Weltordnung. Dort wo die Verteilung von Lebenschancen und materiellen Gütern zu Verbitterung, Demütigung und Marginalisierung führt, entstehen Biotope für Extremismus und Terrorismus. In der langen Linie bekommen Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit dadurch eine ganz andere Bedeutung. Sie werden zu einem zentralen Instrument der internationalen Sicherheitspolitik. Das ist die Bedeutung auch der Festlegung in unserem Regierungsprogramm auf die Fortsetzung der Antiarmutspolitik, der Entschuldungspolitik, der Politik gegen Seuchen, besonders der Ausbreitung von Aids in Afrika, und der Festlegung auf das Ziel von 0,33 Prozent bis zum Jahre 2006, die der Bundeskanzler heute noch einmal bestätigt hat. Das wird die SPD-Bundestagsfraktion wegen des genannten Zusammenhangs sehr aufmerksam und sehr engagiert begleiten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist übrigens auch immer mehr europäische Politik und ein wesentliches Element dieses europäischen Modells.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese fünf Komponenten weisen in der Tat einen Weg über vier Jahre hinaus, einen Weg, der uns von der regionalen Prävention zu der Notwendigkeit des Aufbaus einer globalen, strukturellen Prävention führen wird, und zwar im Sinne einer Gesamtstrategie in der Nach-September-Welt. Das ist ein großer Anspruch, ein großes Ziel. Man kann auch sagen: Das ist eine Vision. Aber am Anfang eines neuen vierjährigen Auftrags ist wohl auch die Gelegenheit, einmal über so etwas zu reden. Wann denn eigentlich sonst? Über dieses Politikmodell, über diese Gesamtstrategie wollen wir auch mit denen reden, die andere Modelle, andere Visionen haben.

Transatlantische Partnerschaft kann nicht heißen, dass der Schwächere irgendwann doch dem Stärkeren nachgibt, ohne überzeugt zu sein. Transatlantische Partnerschaft kann nicht heißen, dass alle schon aufatmen, wenn erwachsene Menschen mit anderen erwachsenen Menschen erwachsen umgehen, indem sie sich, wenn sie sich begegnen, wieder die Hand geben. Transatlantische Partnerschaft, wenn sie den Anspruch auf Verantwortungspartnerschaft überzeugend vorbringen will, heißt, dass wir über unterschiedliche Politikmodelle, unterschiedliche Vorstellungen von einer stabilen und Sicherheit produzierenden Weltordnung ernsthaft diskutieren vor dem Hintergrund beiderseitig pluralistischer Gesellschaften - das gilt zum Glück für Amerika wie auch für Europa -, und zwar mit dem Ziel, das, was Konsens ist, auszuweiten und zur Grundlage gemeinsamen Handelns zu machen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)