Rede Gernot Erlers in der 250. Sitzung des Deutschen Bundestages am 25. Juli 2002: Zur Lage der Bundeswehr und ihrer Aufgaben im Rahmen der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland.

Zur Lage der Bundeswehr und ihrer Aufgaben im Rahmen der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland

Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte als Erstes im Namen der SPD-Bundestagsfraktion Peter Struck zur Übernahme des Bundesministeriums der Verteidigung herzlich gratulieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit der Eidesleistung ist diese Übernahme endgültig abgeschlossen. Wir wünschen ihm Glück und Erfolg bei seiner neuen Aufgabe.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gleichzeitig möchte ich im Namen der SPD-Bundestagsfraktion aber auch einen herzlichen Dank an Rudolf Scharping richten für all das, was er für die Bundeswehr und für unser Land geleistet hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auf Dauer wird sich mit seinem Namen verbinden, dass er die überfällige Reform der Bundeswehr erfolgreich auf den Weg gebracht hat, und zwar unter den erschwerenden Rahmenbedingungen einer unaufschiebbaren und unvermeidlichen
Haushaltskonsolidierung - es ist Scheuklappenpolitik, Herr Schäuble, wenn Sie von diesen Rahmenbedingungen hier nichts wissen wollen -

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und in einer Legislaturperiode, die wie keine zuvor in der Nachkriegsgeschichte Deutschland auf die Probe gestellt hat, durch drei große sicherheitspolitische Herausforderungen mit den bisher umfangreichsten, gefährlichsten und verantwortungsvollsten Auslandseinsätzen, die die Bundeswehr je bewältigen musste. Wenn sich der Pulverrauch über diesem Amtswechsel, den Sie hier natürlich auszubreiten versuchen, etwas verzogen hat, dann wird der Blick frei werden auf das, was hier zu leisten war.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Schönes Bild, Herr Kollege!)

Das war nicht wenig: denn was haben wir 1998, als Rot-Grün die Regierungsverantwortung übernommen hat, vorgefunden: eine Bundeswehr, die acht Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges in keinster Weise auf die neuen Aufgaben vorbereitet war, weder bei der Struktur noch bei der Ausbildung noch bei der Ausrüstung,

(Beifall bei der SPD)

eine Bundeswehr, die in diesem Zustand des verschleppten Umbaus auf Dauer nicht in der Lage gewesen wäre, die verschiedenen internationalen Verpflichtungen in der NATO, der EU, der OSZE und bei den Vereinten Nationen zu erfüllen, und eine Bundeswehr, die im Innern ungeduldig auf die Auflösung eines motivationshemmenden Beförderungs- und Verwendungsstaus und auf mehr Bildungs- und Qualifizierungschancen wartete.

Eine Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf war überfällig. Wir haben darüber nicht geredet, sondern haben diese überfällige Erneuerung angepackt und auf den Weg gebracht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, nie gab es in so kurzer Zeit so viele Entscheidungen, die Veränderungen zum Ziel hatten bzw. haben. Dies zeigt nur, in welch fahrlässiger Weise genau die Leute, die jetzt Kritik üben und sich an die Klagemauer stellen, damals eine Reformverweigerung für zwei Legislaturperioden zum Programm gemacht haben, was die Bundeswehr angeht. Wer war es denn, der die Bundeswehr kleiner, zugleich aber leistungsfähiger und einsatzfähiger gemacht hat mit dem Ziel, insgesamt 285 000 Mann, aber 150 000 Mann Einsatzkräfte zu haben? Wer war es denn, der trotz des notwendigen Zwangs zur Reduzierung des Personals die Sicherheit der Zivilbeschäftigten geschaffen hat? Wer hat denn die Engpässe bei den Laufbahnen und bei der Besoldung so konsequent beseitigt, dass allein in diesem Jahr bei 42 000 Stellen mit Beförderungen und Verbesserungen gerechnet werden kann?

Wer hat denn die Bundeswehr zu einer Startrampe ins zivile Berufsleben verwandelt mit einer noch nicht da gewesenen Qualifzierungs- und Bildungsoffensive für Unteroffiziere und für Mannschaften? Es war der bisherige Verteidigungsminister, der das zu seinem ureigensten Anliegen gemacht hat. Gegen Ihren Spott hat er die Industrie und die Kammern einbezogen. Heute nehmen über 400 Unternehmen und über 100 Kammern daran teil. Zum Glück hat er das gegen Ihren Widerstand durchgesetzt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In welcher Regierungszeit wurde denn die Bundeswehr für Frauen geöffnet, und zwar für alle Laufbahnen und Verwendungen? Vielleicht in Ihrer?

(Ina Lenke [FDP]: Ihr wolltet das doch gar nicht! - Weitere Zurufe von der FDP)

- Sie hatten ja lange genug Zeit, das zu machen. Im Übrigen wissen Sie ganz genau, wie notwendig und überfällig alle diese Veränderungen waren. Die Zeitverzögerungen, für die Sie die Verantwortung tragen, haben sich dramatisch ausgewirkt. Ohne diese von Ihnen so lange verweigerte Bundeswehrreform wäre Deutschland weder europatauglich noch hätten wir als Partner auf Dauer unsere Aufgaben erfüllen können. Weil Sie von diesen Zusammenhängen ablenken wollen, haben Sie seit Jahren nur ein einziges Thema, auf das Sie sich einschießen - Herr Schäuble hat ja eben wieder den Beweis dafür gebracht -, die angebliche Finanzmisere der Bundeswehr. Nun macht es durchaus Sinn, bei diesem Thema konstruktiv und seriös zusammenzuarbeiten. Dazu waren wir immer bereit und sind es auch heute, aber Sie sind es nicht. Eine Zusammenarbeit müsste aber schon mit dem Eingeständnis beginnen, dass wir 1998 eine katastrophale, von Ihnen verantwortete Staatsverschuldung vorgefunden haben

(Beifall bei der SPD)

mit einer jährlichen Belastung von 82 Milliarden DM allein für Zinsen. Das ist das Doppelte des jährlichen Bundeshaushalts für Verteidigung.

(Ludwig Stiegler [SPD]: So ist es!)

Wie einfach wäre es, Lücken zu schließen, wenn wir nicht diese Last übernommen hätten! Herr Schäuble, es ist einfach unredlich, wenn Sie so tun, als hätten diese von uns vorgefundenen Bedingungen keinen Einfluss auf die Bundeswehr.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Ludwig Stiegler [SPD]: Die haben ihre Prioritäten in Schuldentitel gesetzt!)

Wegen der internationalen Verpflichtungen zur Schuldenbegrenzung, die wir mit dem Stabilitätspakt gemeinsam eingegangen sind, muss auch die Bundeswehr ihren Beitrag zur Konsolidierung des Staatshaushalts leisten. Das geht nicht anders. Es wäre auch ein zweites Eingeständnis nötig, nämlich dass die Absenkung der Investitionsquote innerhalb des Bundeshaushalts für Verteidigung - jene entscheidende Fehlentwicklung, um nicht zu sagen: Sünde - nicht etwa in den letzten vier Jahren erfolgt ist, sondern in der Zeit davor. Die Lücken in der Beschaffung und in der Ausrüstung, die wir jetzt verzweifelt zu schließen versuchen, sind doch unter Ihrer Verantwortung entstanden. Die Investitionsquote hat während der Kohl-Regierung im Jahr 1994 mit 21,1 Prozent einen historischen Tiefpunkt erreicht; so weit haben Sie die Quote heruntergefahren. 1997 waren es 21,6 Prozent. Wir haben es im letzten Jahr geschafft, sie wieder auf 24,5 Prozent zu bringen. Dabei sind wir uns alle einig: Das ist immer noch zu wenig. Ein gesundes Verhältnis fängt bei etwa 30 Prozent an. Das werden wir schaffen, dahin werden wir kommen, wenn wir gemeinsam weitermachen.

(Beifall bei der SPD)

Wie soll man Sie eigentlich ernst nehmen, wenn Sie den Leuten weismachen wollen, dass Sie die Stärke der Bundeswehr wieder auf 300 000 Mann erhöhen wollen, was ja eine Steigerung der Betriebskosten bedeutet, und gleichzeitig die Investitionsquote, die Sie heruntergefahren haben, wieder anheben wollen? Das glaubt Ihnen doch kein Mensch.

(Beifall bei der SPD)

Wie wollen Sie erreichen, dass Ihnen überhaupt noch jemand zuhört, wenn Sie seit Jahren immer die gleiche Platte von der Finanzmisere der Bundeswehr - diese haben wir auch gerade wieder gehört - auflegen, die die Bundeswehr handlungsunfähig macht und sogar das Vertrauen unserer Verbündeten beschädigt? Wie wollen Sie das den Leuten klar machen, wenn der Bundeswehr gleichzeitig überall da, wo sie ihre internationalen Aufgaben wahrnimmt - ob in Mazedonien, in Afghanistan oder am Horn von Afrika -, jedes Mal Führungsaufgaben angedient werden, und zwar mehr, als sie wahrnehmen kann? Das passt doch nicht zusammen und das merken die Leute auch.

(Beifall bei der SPD)

Hören Sie also auf, sich ständig an die Klagemauer zu stellen! Tun Sie doch nicht so, als würde die Bundeswehr eher heute als morgen wegen Blutarmut zusammenbrechen. Sie tut es nicht und sie wird es auch nicht tun. Hören Sie auf, in billigster Weise auszunutzen, dass eine Haushaltskonsolidierung, so unbequem und schwierig sie auch ist, eben notwendig ist und die Bundeswehr einen Beitrag dazu leisten muss! Arbeiten Sie endlich daran mit, den Weg der Rationalisierung, der Ausschöpfung und Erschließung von inneren Ressourcen zu bereiten - wir haben in den vergangenen vier Jahren erstmalig damit angefangen -, statt dauernd neue Steine in den Weg zu rollen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, in den letzten vier Jahren ist nicht nur die lange aufgeschobene Bundeswehrreform auf den Weg gebracht worden, in den letzten vier Jahren haben wir auch zusammen mit den anderen europäischen Ländern und mit unseren wichtigsten Partnern einen schwierigen Lernprozess durchgemacht. Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Mit dieser Forderung an uns selbst sind wir angetreten. Dabei mussten wir schwierige Aufgaben erfüllen. Wir mussten zum Beispiel lernen, wie man auf schwerste Menschenrechtsverletzungen in Europa oder auf die Drohung eines Bürgerkriegs reagiert, und im September des letzten Jahres mussten wir uns ganz neuen Herausforderungen stellen. Ich will damit Folgendes sagen: Wir haben etwas geschafft, was für die Bundeswehr genauso wichtig ist wie eine vernünftige Finanzausstattung und Ausrüstung. Wir haben die Menschen an der neuen Definition der Rolle der Bundeswehr in unserer Gesellschaft beteiligt. Uns ist es gelungen, einen Rollenwechsel in der Bundeswehr konsensfähig zu machen und das Einverständnis der Bevölkerung zu erreichen. Das ist die Kontinuität, von der Peter Struck vorhin geredet hat. Diese Kontinuität gilt es zu bewahren.

Bei dieser Frage geht es auch um den politischen Grundkonsens. Ich habe den Eindruck, dass Sie nicht gewillt sind, diesen Grundkonsens in der Außen- und Sicherheitspolitik zu wahren. Wie soll ich es sonst verstehen, dass der bayerische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat der CDU/CSU vor kurzem vor einem Kongress der Vertriebenen mit der Keule der Beitrittsverweigerung das deutsch-tschechische Verhältnis infrage gestellt hat?

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angelika Köster-Loßack [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Hinterher wurde zwar gesagt, es handele sich um eine Fehlinterpretation. Wie kann ich dann aber verstehen, dass er wenige Tage später beim Ostpreußentag die Polen angegriffen und gefordert hat, die so genannten Bierut-Dekrete zurückzunehmen, die schon lange nicht mehr gelten?

(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!)

Er hat das in einer solchen Form getan, dass Sie, Herr Schäuble, in einer Nacht- und Nebelaktion schnellstens nach Warschau fahren mussten, um die Scherben, die er angerichtet hat, wieder zusammenzukitten. Wie soll ich es eigentlich verstehen, dass sich Ihr Kanzlerkandidat jüngst in seiner Grundsatzrede anlässlich des 21. Franz-Josef-Strauß-Symposiums in München ausschließlich auf die NATO konzentriert hat? In seiner sicherheitspolitischen Grundsatzbotschaft führte er aus, dass es darum gehe, die NATO zu einer globalen Allianz mit militärischer Schlagkraft weiterzuentwickeln. Den Weg in eine politische Allianz lehnte er schlichtweg ab, obwohl dies die Realität ist.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat er nicht mitbekommen!)

Er bekannte sich ferner zu den amerikanischen Programmen der Raketenabwehr, zur Weiterentwicklung der Atomwaffen und zu präventiven Militärschlägen im Kampf gegen den Terrorismus. Dabei hat er die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik von Europa nicht mit einem einzigen Wort erwähnt. Da kann ich nur sagen: Das ist nicht nur eine Beschädigung des Grundkonsenses in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, das ist eine Beschädigung des europäischen Grundkonsenses in der Außen- und Sicherheitspolitik.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer so etwas macht, bewegt sich aus der europäischen Politik heraus und isoliert sich. Eine solche Politik ist nicht europatauglich. Sie verdient keine Zustimmung und sie schadet der Bundeswehr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In der gleichen Zeit, in der diese unverantwortlichen Auftritte stattgefunden haben, hat uns - das will ich noch erwähnen - unser Außenminister Konzepte für die Vermittlung im Nahostkonflikt vorgelegt und hat es der Bundeskanzler in Kananaskis in Kanada erreicht, dass Russland in das wichtige G-8-Gremium, das im Grunde Steuerungsfunktion für Friedens- und Sicherheitspolitik auf der ganzen Welt hat, einbezogen wird.

Wir sind dankbar, dass es deutsche Initiativen waren, aufgrund deren es bei diesem G-8-Gipfel endlich einmal auch eine Afrikastrategie gab. Meine Damen und Herren, bewerten Sie einmal diese Auftritte und die dabei erzielten Erfolge! Die Bundeswehr braucht die Politik, die diese Bundesregierung macht. Sie braucht keine Gefährdung von gutnachbarschaftlichen Beziehungen. Diese präventive, globale Politik ist das Beste, was wir für die Bundeswehr tun können. Die Bundesregierung mit Joschka Fischer, mit dem Bundeskanzler und jetzt mit Peter Struck wird sie weiterführen. Das sind die besten Rahmenbedingungen für die Bundeswehr. Das muss die Botschaft dieses Tages sein.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)