Presseerklärung vom 8. Mai 2005

8. Mai 1945 – 8. Mai 2005: Erinnerung und Versöhnung als Grundlage für eine gemeinsame Zukunft

Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2005 erklärt Gernot Erler, Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Vorsitzender der deutsch-russischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages:

Am 8. Mai 2005 jährt sich der Jahrestag des Kriegsendes zum 60. Mal. Wir gedenken dabei vor allem der 60 Millionen Toten, die dieser Krieg gekostet hat. Die meisten Opfer und Zerstörungen hatten dabei die Völker der ehemaligen Sowjetunion zu beklagen. Die heute unabhängigen Staaten Russland, Ukraine und Weißrussland sind dabei die Hauptleidtragenden gewesen. Insgesamt 16,9 Millionen Zivilisten und 8,7 Millionen sowjetische Soldaten verloren ihr Leben, 1 710 Städte, 70 000 Dörfer und sechs Millionen Gebäude wurden verwüstet. Der Krieg verschonte niemanden und brachte in fast jede sowjetische Familie Leid und Elend.

Dieser von Deutschland allein zu verantwortende Krieg war ein Ergebnis der verbrecherischen Nazi-Ideologie. Das von ihm ausgehende Verderben erfasste auch viele andere Völker. Unter ihnen hatte Polen den größten Blutzoll zu entrichten. Mit dem Zweiten Weltkrieg bleibt die brennende Erinnerung an die Shoah unauflöslich verbunden, der sechs Millionen jüdische Menschen zum Opfer fielen. Am Ende kehrte der Krieg nach Deutschland zurück und verwüstete das Land, von dem er ausgegangen war.

60 Jahre danach ist Erinnerung immer noch unverzichtbar, Vergessen unmöglich. Das Erinnern und die intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit schaffen die notwendige Anerkennung für all die Opfer und Leistungen der Kriegsbeteiligten. Das Erinnern gibt, inmitten der unfassbaren Sinnlosigkeit des Krieges, dem Leiden und Handeln des einzelnen einen Sinn.

Nach all dem, was geschehen ist, bleibt die Aussöhnung zwischen Deutschen und seinen europäischen Nachbarn ein Wunder. Diese Aussöhnung entwickelt seine Kraft gerade deshalb, weil sie sich nicht auf Vergessen und Verdrängen stützt.

1985 hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker festgestellt: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft". Dieser Satz hat geholfen, den Weg zu der eigentlich kaum vorstellbaren Versöhnung zu finden. Das Verstehen des 8. Mai als Befreiungsakt enthält die dankbare Erinnerung an alle, die dabei unter Einsatz ihres Lebens geholfen haben.

Nachdem bereits in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg die Aussöhnung mit unseren westlichen Nachbarländern begonnen wurde, können wir heute, im Jahr 2005, feststellen, dass auch die deutsch-russische Aussöhnung Realität geworden ist. Die Einladung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu den Feierlichkeiten am 9. Mai auf dem Roten Platz in Moskau unterstreicht dies. Nach neuen Umfragen empfinden über 90 Prozent der Russen weder Rache- noch Hassgefühle gegen das im „Großen Vaterländischen Krieg" besiegt Deutschland.

Zwischen Deutschland und Russland findet ein wachsender wirtschaftlicher Austausch statt, die politischen Beziehungen gründen sich auf wechselseitiges Vertrauen, die Zusammenarbeit auf den Gebieten von Kultur, Wissenschaft und Bildung wächst mit jedem Jahr und die Zahl der persönlichen Begegnungen, auch gerade der jungen Generation, nimmt zu.

Die Gestaltung des 8. und 9. Mai in Deutschland und Russland zeigt symbolhaft auf, welch enge Verbindung zwischen Erinnerung, Versöhnung und einer gemeinsamen Zukunft besteht: Nach den Gedenkveranstaltungen am 8. Mai im Deutschen Bundestag - in Anwesenheit russischer, britischer und französischer Parlamentarier - und den Moskauer Feierlichkeiten am 9. Mai, wird am 10. Mai im Rahmen des EU-Russland-Gipfels in der russischen Hauptstadt über die gemeinsame europäische Zukunft beraten.

Der 60. Jahrestag des Kriegsendes mahnt uns zugleich, die Bedeutung des gemeinsamen Erinnerns und die Arbeit an unserem historischen Gedächtnis nicht zu vernachlässigen. Die Zeit geht zu Ende, in der die "Erlebnisgeneration" den nachfolgenden Generationen die eigenen Erfahrungen direkt weitergeben konnte. Wir brauchen eine neue Erinnerungskultur für die Zukunft, in der Kriegsveteranen als Zeitzeugen nicht mehr zur Verfügung stehen und der Zweite Weltkrieg für alle definitiv zur Geschichte geworden ist. An der Entwicklung einer solchen neuen Erinnerungskultur gemeinsam zu arbeiten, ist eine lohnende Aufgabe für alle vom Krieg betroffenen Nationen.

Die Botschaft des 8. Mai 2005 muss sein: Wir arbeiten gemeinsam an einer europäischen Zukunft des Friedens, des Interessenausgleichs und des Vertrauens, und wir können dies tun auf der Basis einer Aussöhnung, die auf einer gemeinsamen Erinnerungsarbeit ohne Vergessen und Verdrängung aufbaut.