Presseerklärung vom 10. Mai 2005

Kritische Fragen an die Gedenkrede des Bundespräsidenten

Zur Rede von Bundespräsident Horst Köhler zum 8. Mai 2005 erklärt Gernot Erler, Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion:

Herausragende Gedenktage sichern große Aufmerksamkeit für die Reden, die aus solchen Anlässen gehalten werden. Richard von Weizsäcker nutzte den 40. Jahrestag des Kriegsendes von 1985, um in einer großen Rede eine neue Orientierung zu geben, die heute noch Gültigkeit beanspruchen kann.

Wenn Horst Köhler bei seinem Auftritt im Deutschen Bundestag am vergangenen Sonntag in diese Fußstapfen treten wollte, ist ihm das nicht geglückt. Eine Reihe von zustimmungsfähigen Feststellungen und Passagen machen noch keine große Rede. Auf die Botschaft kommt es an. Und die hängt eigenartig schief in der politischen Landschaft.

Botschaft 1: Opfer sind Opfer, bei den anderen wie bei uns.

Der Bundespräsident gedenkt der Opfer in einer eigenen Abfolge. Sechs Millionen Juden, Sinti und Roma, Kranke, Behinderte, politisch Andersdenkende, Homosexuelle. Dann: „Wir gedenken der vielen Millionen Menschen, die darüber hinaus dem deutschen Wüten vor allem in Polen und in der Sowjetunion zum Opfer fielen." Darüber hinaus? Von den etwa 60 Millionen Kriegsopfern entfielen allein mindestens 26 Millionen auf die Sowjetunion, davon 17 Millionen Zivilisten. Das war mit großem Abstand der größte Opferanteil.

Köhler zählt dann die Opfer in deutscher Gefangenschaft auf und fährt fort: „Wir gedenken der mehr als eine Million Landsleuten, die in fremder Gefangenschaft starben, und der Hunderttausende deutscher Mädchen und Frauen, die zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt wurden. Wir gedenken des Leids der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, der vergewaltigten Frauen und der Opfer des Bombenkriegs gegen die deutsche Zivilbevölkerung."

Die Opfer werden bewusst nebeneinander und gleichgestellt, auch in einer Abfolge kurzer Opfergeschichten: der achtjährige KZ-Gefangene, die mit Todesfolge vergewaltigte deutsche Mutter, Lew Kopelews 10jährige sowjetische Lagerhaft und Dieter Fortes Alpträume nach den Bombenangriffen auf Düsseldorf.

Man kann der verschiedenen Opfer gedenken, ohne sie in ihrer Verschiedenheit einzurühren und damit den aktuellen Tendenzen von „Opferkonkurrenz" und „Opfernivellierung" das Wort zu reden. Der Bundespräsident bedient interventionsartig ein populäres Erinnerungsbedürfnis, ohne auf die Gefahren hinzuweisen. Das hat Gerhard Schröder ganz anders gemacht, als er in seinem Beitrag für die „Süddeutsche Zeitung" vom 7./8. Mai schrieb:

„Wer geglaubt hat, die Erinnerung an 1945 würde in Deutschland mit wachsender zeitlicher Distanz einem historischen Desinteresse weichen, sieht sich getäuscht. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und an das Kriegsende erfährt seit einiger Zeit vielmehr eine neue Konjunktur. Allerdings erleben wir dabei abermals Versuche, Geschichte umzudeuten, Ursache und Wirkung zu verkehren, Schuld und Verantwortung Nazi-Deutschlands zu leugnen. Den Bestrebungen besonders, aber nicht nur von neonazistischen Gruppen, Untaten und Leid des Krieges gegeneinander aufzuwiegen, den Täterdiskurs in einen Opferdiskurs zu verwandeln und die Naziverbrechen zu relativieren, müssen wir entschieden entgegentreten."

War es vermessen, vom Bundespräsidenten eine ähnlich klare Absage an jene zu erwarten, die vom „Bomben-Holocaust" faseln und die ihre Art des Kriegsgedenkens zweihundert Meter vom Reichstag entfernt zum Ausdruck zu bringen versuchten?

Botschaft 2: Heute sind wir wieder oben, weltoffen und stolz auf unser Land

Horst Köhler verweilt nicht lange beim 8. Mai 1945. Er liefert, umstandslos, einen Abriss der deutschen Nachkriegsgeschichte, als hielte er eine Rede zum 3. Oktober. Vierzehnmal kommt er dabei auf die Beschreibung von Unrecht und Unterdrückung seitens der Sowjetunion und der DDR-Führung zu sprechen. Im Kontrast zu dieser Finsternis hat sich in Westdeutschland das Licht der Freiheit ausgebreitet, mit lauter weisen politischen Entscheidungen und mit der Rückverwandlung Deutschlands in eine Kulturnation, die Deutschland bis 1933 gewesen ist - ein Prozess, dem sich ab 1990 endlich auch die Ostdeutschen anschließen konnten und dessen Ergebnis uns heute gute Gründe gibt, „stolz auf unser Land zu sein".

Der Bundespräsident nutzt also den 60. Jahrestag des Kriegsendes, um erneut mit seinen Appellen an den deutschen Nationalstolz Aufbruchsstimmung zu erzeugen. Neben der Frage nach der anlassgerechten Platzierung dieser Appelle muss sich Horst Köhler auch einer Hinterfragung seiner Problemanalyse stellen: Stimmt es wirklich, dass das Hauptproblem der Deutschen darin besteht, 60 Jahre nach Kriegsende immer noch in Sack und Asche zu gehen und der Weltöffentlichkeit mit Hängeschultern gegenüberzutreten?

Und grenzt es nicht schon an Verdrängung, wenn man die deutsche „Weltoffenheit" lobt, die gemeinsame Zukunft im erweiterten Europa beschwört und die „Freude der neuen Mitgliedsstaaten" der EU emphatisch aufnimmt, ohne mahnend auf die veränderte, von der CDU/CSU politisch instrumentalisierte Stimmungslage in Deutschland in Sachen EU-Osterweiterung zu sprechen zu kommen, die bei unseren Nachbarn in Bulgarien und Rumänien von Tag zu Tag als bedrohlicher wahrgenommen wird?

Auch hier bietet sich an, noch einmal den Vergleich zum Bundeskanzler zu ziehen, der dazu in dem genannten SZ-Interview folgende Worte fand: „Für gefährlich, verantwortungslos und geschichtsvergessen halte ich in diesem Zusammenhang die aktuellen Versuche, dumpfe Vorurteile und Ressentiments gegen die europäische Erweiterung zu schüren, um sich einen kurzfristigen innenpolitischen Vorteil zu verschaffen. Einen solchen Rückfall in provinzielle Engstirnigkeit und nationalistische Eigensucht kann und darf sich ein tolerantes, weltoffenes und exportorientiertes Land wie Deutschland nicht leisten. Von opportunistischem Gutdünken oder Wohlgefallen dürfen wir niemals abhängig machen, wer zum vereinten Europa gehören wird."

Horst Köhlers Rede wird uns, anders als die seines Vorgängers Richard von Weizsäcker, nicht lange im Gedächtnis bleiben. Das ist eine Prognose, kein Vorwurf. Schwerer wiegt, dass der Bundespräsident bei sensiblen Fragen wie der Qualität einer neuen Erinnerungskultur 60 Jahre nach dem Kriegsende und dem Spannungs-Komplex Nationale Ortsbestimmung - Weltoffenheit - Zukunft in Europa nicht nur eine Chance verpasst hat, sondern sich - erneut - als Wegbereiter eines neuen konservativen geistigen Umfelds profiliert hat. Das Recht, so zu handeln, kann ebenso wenig in Frage stehen, wie das zur kritischen Auseinandersetzung mit solchen Interventionen.