Presseerklärung vom 16. Juni 2005

Krisengewinnlertum statt Verantwortung - Zu den CDU-Antworten in der Europa-Krise

Das „Non" und „Nee" der Verfassungsreferenden in Frankreich (29.5.) und in den Niederlanden (1.6.) hat Europa in eine Krise gestürzt. Keine drei Wochen danach wird das gesamte Ausmaß dieser Krise sichtbar. Nicht nur die Verfassung droht zu scheitern, jetzt geht es schon um die Identität und Handlungsfähigkeit der EU, sichtbar an der Debatte um die Zukunft des Erweiterungsprozesses und an dem Ringen um den Finanzrahmen der Union für die Jahre 2007 bis 2013. Die Krisensituation droht, sich zu verdreifachen.

In der deutschen Politik lassen sich krasse Unterschiede in der Reaktion auf diese Herausforderung feststellen. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat unverzüglich eine rege Gesprächs-Diplomatie entfaltet, hat zusammen mit der Ratspräsidentschaft von Jean-Claude Juncker und in Treffen mit Chirac und Blair versucht, ein weiteres Abrutschen in eine allgemeine Krise aufzuhalten. Bei der Frage der Finanzen setzt der Bundeskanzler auf eigene Bewegungsbereitschaft, die dann dasselbe von den Partnern verlangt. Aus seiner Sicht lohnt es sich, auch mit Zugeständnissen bis zum Gipfeltreffen vom 16. und 17. Juni einen Kompromiss zu erreichen, weil ein zusätzliches Scheitern bei der Haushaltsfrage die Krise der EU noch verschärfen würde. Aus demselben Grund, aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen, weist Gerhard Schröder bei der Erweiterungsfrage auf die Gültigkeit gemeinsamer Beschlüsse und die Bedeutung der Verlässlichkeit der EU hin.

Ganz anders reagiert die Opposition in dieser kritischen Lage. Ein Grundkonsens, auf diese vielleicht größte Herausforderung des Projekts Europa wenigstens mit einem Minimum an Kooperationsbereitschaft zu antworten, lässt sich nirgends erkennen. Stattdessen hagelt es sowohl von CDU/CSU wie FDP serienweise sachferne Schuldzuweisungen. Die Autorität und damit auch die Erfolgschance des deutschen Regierungschefs bei seinem Einsatz für einen Finanzkompromiss wird untergraben, indem Frau Merkel mit Blick auf das angestrebte Wahldatum am 18. September dem Kanzler inzwischen jedes Handlungsrecht bestreitet. Vor allem aber bei der Erweiterungsfrage zeigt Frau Merkels Partei, dass sie die drohende Krise nicht aufhalten, sondern von ihr profitieren will. Der Moment größter Gefahr für Europa wird der CDU/CSU zur Gunst der Stunde - um populistisch Vorteile für den Bundestagswahlkampf zu ergattern und um endlich den eigenen, bisher europaweit isolierten Vorstellungen von EU-Erweiterung, vor allem bei der Türkeifrage, zum Durchbruch zu verhelfen. Eine Kurzformel dafür könnte lauten: Krisengewinnlertum statt Verantwortung!

Dass diese Politik der Opposition nicht als Masterplan, sondern als gemischter Chor daher kommt, macht die Sache nicht besser. Das Durcheinander erklärt sich auch damit, dass der christdemokratische Closed-Shop-Populismus immer wieder auf die im Konsens getroffenen Erweiterungsbeschlüsse der EU knallt. Das hindert Frau Merkel nicht an der Forderung, exakt jetzt „endlich die Grenzen in Europa abzustecken" (AFP, 3.6.). Bereits am 13.5. verlangte der saarländische Ministerpräsident Peter Müller „Nachverhandlungen" mit Rumänien und Bulgarien und warnte davor, schon jetzt die Aufnahme der beiden Länder vertraglich zu fixieren (Die Welt) - obwohl in der EU bereits der Ratifizierungsprozess für die längst gemachten Beitrittsverträge läuft. Der CDU-Europapolitiker Peter Hintze steuerte deshalb eine Variante bei und verlangte die Aussetzung der Beitritte von Bulgarien und Rumänien (dpa, 25.5.), unterstützt von dem CSU-Europapolitiker Ingo Friedrich, der zum Schutz des „maßlos überdehnten Europa" ein generelles Beitrittsmoratorium forderte (AFP, 2.6.). Derselbe Peter Hintze will die Bundestagswahlen zum „Plebiszit" über einen EU-Beitritt der Türkei machen, wird aber noch überholt von Matthias Wissmann, immerhin Vorsitzender des Europa-Ausschusses des Bundestages, der in einem Interview unter dem Titel „CDU will Europa dichtmachen" wörtlich feststellte: „Die EU ist auf längere Zeit an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt". (BZ, 12.6.) In dem selben Gespräch erläuterte Wissmann auch, was für die CDU "ergebnisoffene Verhandlungen" mit der Türkei bedeuten: Die neue Regierung werde sagen, "für uns bedeutet ergebnisoffen verhandeln, wir wollen eine privilegierte Partnerschaft."

Lässt man einmal den logischen Lapsus weg, so bleibt doch das Bild klar: Die CDU/CSU greift die Ängste der Menschen auf, die sich zweifellos in dem Non/Nee zur Verfassung auch in Bezug auf die EU-Erweiterung spiegeln, aber nicht in der Absicht, den Menschen überzeugende, Sicherheit gebende Antworten zu geben, um diese Ängste abzubauen und damit auch das europäische Verfassungsprojekt und damit die europäische Zukunft zu sichern. Nein, Merkels Europäer verstärken und instrumentalisieren diese Ängste aus kurzfristig-egoistischen Gründen. Die suggestive Botschaft heißt, wir machen die EU-Bude zu, verschieben den Zugang für Rumänien und Bulgarien, verfrachten die Türkei auf ein anderes Gleis und geben keinem anderen mehr eine Chance (sorry Ukrainer, vor kurzem klang das noch etwas anders bei uns!), und dann braucht ihr keine Angst mehr vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg zu haben, wenn ihr uns denn am 18. September zur Kanzler-Partei macht.

Erfahrene CDU-Politiker wie Volker Rühe, der deswegen resigniert hat, und Wolfgang Schäuble erkennen die Gefahr, ohne sie aufzuhalten. Wer zulässt und das auch noch verstärkt, dass alle Lebensrisiken innerhalb der EU auf die neuen Mitglieder projiziert werden, fördert indirekt nicht nur Fremdenangst und Fremdenhass, er torpediert auch das Friedenswerk europäische Integration. Als sich 1991 Sowjetunion und Warschauer Pakt auflösten, standen zwei Dutzend zum Teil ganz junge europäische Länder plötzlich vor einem gefährlichen Vakuum. Die Perspektive der europäischen Integration löste dann einen noch nicht da gewesen Transformations- und Reformprozess für diejenigen Länder aus, die diese Perspektive bekamen. Die acht Länder Ost- und Südosteuropas, die am 1. Mai 2004 der EU beitraten, hatten zuvor auch die Aufgabe zu erfüllen, alle ihre Nachbarschafts- und Minderheitskonflikte überzeugend zu lösen - und sie taten es. Der Beitrittsprozess war eine erfolgreiche Stabilisierungs- und Friedensstrategie.

Wo diese Beitrittsperspektive nicht gewährt wurde, wie auf dem Balkan bei den Nachfolgerepubliken der Jugoslawischen Föderation, erlebte Europa die tragische Rückkehr von Krieg, Tod und Gewalt in den vier Balkankonflikten der 90er Jahre. Genau deshalb entwickelte die EU ab 1999, bevor noch der Kosovo-Krieg beendet war, die Strategie des Stabilitätspakts für Südosteuropa und den sogenannten Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess für die Westbalkanregion, vom EU-Rat von Thessaloniki dann eindeutig mit einer Beitrittsperspektive verbunden. Die Lektion war gelernt:
Der europäische Frieden geht nur über die Integration.

Diese Lehre schmeißt jetzt die CDU/CSU grob fahrlässig über Bord „Europa dichtmachen" heißt, Verträge brechen, Zweifel an der Verlässlichkeit der EU säen und die friedenspolitische Bedeutung der gesamteuropäischen Integration ignorieren. Mit dieser Politik geben Frau Merkel und ihre Mitstreiter zwar Pseudoantworten auf die realen Ängste der Menschen, und es ist denkbar, dass der Pseudocharakter dieser Antworten zunächst nicht auffällt und dieser Populismus bei einem Teil der Wähler am 18. September verfängt. Aber diese Politik führt in eine gefährliche Sackgasse, aus der man dann kaum noch herauskommt. In einer echten Krise ist Führungsbereitschaft gefragt, nicht das Schielen nach dem kleinen faktischen Vorteil. Bei der Opposition ist zurzeit weder die Bereitschaft noch die Fähigkeit zur gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft Europas zu entdecken.

Gernot Erler, MdB