Presseerklärung vom 28. Juli 2005

Achse Merkel - Sarkozy: Sicherheitsrisiko für Europa

Zur Kampagne der CDU/CSU gegen die EU-Türkei-Beitrittsverhandlungen und zu den Folgen der neuen Achse Merkel-Sakozy erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, MdB:

Das Wahlprogramm von CDU/CSU kennt bei der Außen- und Sicherheitspolitik nur einen handfesten Punkt: Verhinderung von Verhandlungen der EU mit der Türkei mit dem Ziel der EU-Mitgliedschaft.

Anfang dieser Woche ist sichtbar geworden, dass die neue Achse Merkel-Sarkozy dieses Ziel mit aller Macht verfolgen wird. Bisher befindet sich die CDU/CSU und die französische UMP damit in einer Außenseiterposition innerhalb der EU, allenfalls lustlos beklatscht von der österreichischen Außenministerin Plassnik. Die anderen Mitgliedsstaaten halten an dem seit vielen Jahren verfolgten Ziel fest, den Nachbarn Türkei vollständig und dauerhaft in den europäischen Strukturen zu verankern.

Die von Stoiber und Merkel propagierte \"Privilegierte Partnerschaft\" kann dieses Ziel nicht erreichen. Nicht nur die AKP-Regierung in Ankara, sondern die ganze türkische Bevölkerung lehnen dieses Angebot entschieden ab - als schroffe Zurückweisung der Türkei und als Bruch aller bisher von der EU gemachten Zusagen.

Weil das ganz Europa weiß, hat Frau Merkels \"Privilegierte Partnerschaft\" keine Chance, in den noch immer nicht abschließend festgelegten Verhandlungsrahmen EU-Türkei aufgenommen zu werden. Aber auf einem anderen Weg könnte diese Verhinderungsstrategie einen verhängnisvollen Erfolg erzielen. Längst hat am Bosporus eine Diskussion darüber begonnen, wo die Grenzen der Zumutbarkeit auf dem Weg der Türkei in die EU liegen. Die Öffentlichkeit hat mit Bitterkeit registriert, welche Sonderauflagen bereits in dem jetzigen \"Negotiating Framework\" stehen: dass nämlich am 3. Oktober nicht etwa Beitrittsverhandlungen beginnen sollen, sondern erst Mal ein \"Screening\" zum Stand der Übernahme des Acquis communautaire, das sich ein Jahr lang hinziehen kann, dass erstmals darauf hingewiesen wird, am Ende werde nicht nur die Transformationsleistung der Türkei den Ausschlag geben, sondern auch die Fähigkeit der Union, die Türkei aufzunehmen, und dass praktisch alle 25 EU-Mitgliedsstaaten jederzeit mit einer Art Dauer-Veto-Recht die Verhandlungen zum Erliegen bringen können. Gerade dieser Teil des Verhandlungsrahmens nährt in der Türkei die Befürchtung, die Achse Merkel-Sarkozy werde es dann schon irgendwann schaffen, den Verhandlungsprozess auszuhebeln.

In der türkischen Politik spielen Ehrgefühle eine ausgeprägte Rolle. Immer mehr gerät Ministerpräsident Erdogan mit seiner EU-Politik in die Defensive. Sollte die Achse Merkel-Sarkozy den Druck weiter verschärfen und eine weitere Verschlechterung des Verhandlungsrahmens zulasten der Türkei erreichen, ist eine dramatische Kehrtwende der türkischen Politik mit einer Aufgabe des EU-Integrationsziels durch Ankara nicht mehr auszuschließen. Für einen solchen Zusammenbruch dieser über Jahrzehnte hinweg verfolgten europäischen Strategie mit all ihren Folgen trüge die Achse Merkel-Sarkozy und Frau Merkel persönlich die Hauptschuld.

Und die Folgen wären verheerend. Wenn der Konsens über den Weg in die EU, der bisher Motor so vieler Reformschritte in der Türkei war, verloren geht, wird Erdogans Regierung in eine schwer kalkulierbare Krise stürzen. Aus dieser kann leicht eine Systemkrise des ganzen Landes entstehen, mit einer Renaissance nationalistischer und kemalistischer Kräfte, die durch die Reformen der AKP-Regierung an Boden verloren haben. Sehr wahrscheinlich wäre auch eine geopolitische Reorientierung Ankaras - in Richtung der islamischen Nachbarn und Russlands. Von den politischen Bringschulden im Kontext der EU-Integration befreit, könnte in der Türkei die Bereitschaft wachsen, nationale Interessen wieder auf andere Weise als bisher zu verfolgen. Dabei könnte die Lösung des Zypern-Problems in weite Ferne rücken, und bei der Abwehr des zurzeit wieder wachsenden, gar nicht scharf genug zu verurteilenden PKK-Terrors könnte es zu einer Wiederkehr der überwunden geglaubten Gewaltszenerien aus den Öčalan-Zeiten kommen, möglicherweise sogar verbunden mit einer militärischen Intervention im Nord-Irak.

Die Folgen würden sich nicht auf die Zukunft des EU-Nachbarn Türkei beschränken. Eine Resignation Ankaras, natürlich begleitet von schweren Vorwürfen gegen die Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit der EU, würde die Zweifel bei all den Ländern in Südosteuropa und auf dem Balkan verstärken, die mit ihren mittelfristigen Zusagen vor der EU-Tür stehen. Sollte sich auch dort das Gefühl der \"Unerwünschtheit\" ausbreiten, wären dort politische Krisen und der erneute Ausbruch von Konflikten nicht auszuschließen. Die ersten Betroffenen davon wären die etwa 3500 Bundeswehrsoldaten, die auf dem Balkan Missionen der Friedenskonsolidierung erfüllen.

Die Kampagne gegen die Aufnahme von EU-Verhandlungen mit der Türkei mit dem ausdrücklichen Ziel der EU-Mitgliedschaft und für eine weitere Verschlechterung der Verhandlungsbedingungen, die mit der Achse Merkel-Sarkozy neue Fahrt aufgenommen hat, richtet sich gegen die Stabilitäts- und Sicherheitsinteressen Europas. Wer weiter die Abstufung des Verhandlungsziels auf \"Privilegierte Partnerschaft\" betreibt, wohlwissend, dass die große Mehrheit der türkischen Bevölkerung dies als definitive Abweisung versteht und ablehnt,
riskiert den Abbruch des europäisch-türkischen Integrationsprozesses, mit all den zu befürchtenden Folgen. Diese Politik der CDU/CSU ist völlig unverantwortlich, was auch namhafte Fachleute aus den eigenen Reihen bestätigen. Diese Risikobereitschaft darf nicht zur künftigen Europapolitik werden.

Wer Zweifel an einem Integrationsprozess mit dem Ziel einer türkischen EU-Mitgliedschaft hat und gleichzeitig seiner Verantwortung für Frieden und Stabilität in ganz Europa nachkommen will, der muss die Verhandlungen am 3. Oktober mit dem vereinbarten Ziel und auf der Basis eines fairen Verhandlungsrahmens beginnen. In den langen Verhandlungsjahren, die folgen werden, können sich dann durchaus differenzierte Verhandlungsziele und Verhandlungsergebnisse entwickeln - aber nur in partnerschaftlicher Kooperation und im Konsens mit der Türkei.