Presseerklärung vom 30. August 2005

Beslan – Ein Jahr danach

Der 1. September ist in Russland traditionell der Tag des Beginns des neuen Schuljahres. Schüler, Eltern und Lehrer begehen ihn gemeinsam als feierlichen Akt in ihrer Schule. So auch vor einem Jahr im kleinen Städtchen Beslan im Süden Russlands. Doch dann geschah das bis dahin Unvorstellbare: Dutzende tschetschenischer und inguschetischer Terroristen dringen während der Schulfeier in das Gebäude ein und nehmen alle, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Aula des Gebäudes in Erwartung einer feierlichen Zeremonie versammelt haben, als Geisel. Für über eintausend Menschen - die russischen Behörden sprechen zunächst von ca. 300 Geiseln, erst später stellt sich die wahre Dimension heraus - beginnt ein drei Tage währendes Martyrium ohne Wasser und Nahrungsmittel, das am Ende in einem flammenden Inferno enden wird.

Die Bilanz des Schreckens lautet: 331 Tote, darunter 186 Kinder. Mehr als 700 Kinder werden verletzt, manche so schwer, dass sie für den Rest ihres Lebens unter den Folgen zu leiden haben. Aber auch diejenigen, die das Drama scheinbar unverletzt überstanden haben, werden die Ereignisse nie vergessen können.

Bis heute existieren rund um das schreckliche Geschehen viele ungeklärte Fragen. Wie konnte es passieren, dass Terroristen unbemerkt mit ihren Waffen bis zum Schulgebäude gelangen, vorbei an zahlreichen Kontrollpunkten? Auch die Frage nach der Verantwortung für den chaotisch verlaufenden Einsatz ist bislang noch nicht beantwortet.

Drei verschiedene Untersuchungskommissionen haben sich bisher darum bemüht, die Umstände der Geiselnahme aufzuklären. Sehr viel Erhellendes ist bislang nicht zutage getreten. Doch die Hinterbliebenen lassen nicht locker. Allen voran die Eltern der betroffenen Kinder haben sich in der Hinterbliebenenorganisation „Mütter von Beslan" organisiert und drängen auf Aufklärung.

Ob es tatsächlich gelingen wird, die Tragödie restlos aufzuklären, bleibt fraglich. Vermutlich würde sich der Verdacht erhärten, dass massive Fehler vonseiten des russischen Sicherheitsapparats mit verantwortlich für das Blutbad bei der Befreiung der Geiseln sind.

Doch neben der Frage der individuellen Schuld einzelner Verantwortungsträger bleibt die Frage des politischen Umfelds, in dem ein solcher terroristischer Akt geschehen konnte.

Präsident Putin hat seinerzeit umgehend reagiert und einen seiner engsten Vertrauten, Dmitrij Kosak, damit beauftragt, Vorschläge zur Lösung der regionalen Probleme in der Kaukasusregion zu erarbeiten. Doch Kosak, mit viel Vorschusslorbeeren gestartet, ist bislang noch nicht sehr weit gekommen.

Zwar hat er sehr schnell Ursachen für die instabile Lage benannt, die den gesamten Kaukasus prägen - dazu gehören in erster Linie wirtschaftlicher Niedergang, ineffiziente regionale und lokale Verwaltungsorgane, Nepotismus, Bandenkriminalität und hohe Arbeitslosigkeit in Verbindung mit Perspektivlosigkeit insbesondere für die jungen Menschen. Lösungen, die sich schnell realisieren lassen, kann Kosak jedoch auch nicht anbieten.

Kooperationsangebote Deutschlands und der Europäischen Union wurden bislang nur sehr zögerlich angenommen. Diese Angebote haben zur Grundlage, dass die gesamte Kaukasusregion als ein zusammenhängendes Gebilde betrachtet wird und Lösungsansätze darauf abzielen, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu fördern. Hier die gemeinsamen Erfahrungen mit regionaler Stabilitätspolitik zu nutzen und auf diese Weise wegzukommen von den aussichtslosen Versuchen, die Konflikte mit militärischen Mitteln zu lösen - das wäre immer noch die beste Antwort auf die Tragödie von Beslan.

Doch auf russischer Seite überwiegt Skepsis. Die Angst vor zuviel Einmischung in innere Angelegenheiten, die Furcht vor Einkreisung und letztendlich vor dem Zerfall der Russischen Föderation, sollte sich der Separatismus an seinen Rändern erst einmal etabliert und durchgesetzt haben, sitzt tief.

Es besteht kein Zweifel: In dem jetzigen Zustand bleibt der Krisenherd im Kaukasus für Moskau eine latente Gefahr für die Stabilität im gesamten Land. Ein nüchternes und ehrliches Fazit der Lage vor Ort ist bisher nur in Ansätzen erfolgt. Auch widerrechtliche Übergriffe durch russische Sicherheitsorgane und die mangelhafte strafrechtliche Verfolgung treiben den tschetschenischen Terroristen immer wieder neuen Nachwuchs in die Arme. Und wirksame Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen und ökonomischen Lage sind bislang ebenfalls nicht zu beobachten, was nicht zuletzt mit dem hohen Grad krimineller Energie zu tun haben dürfte, mit dem zur Verfügung gestellte Mittel zweckentfremdet werden.

Hinzu kommt, dass das Personal, aus dem sich die regionale Führungsschicht rekrutiert, nicht dazu angetan ist, Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zu hegen. Personen wie der tschetschenische Vizeregierungschef Ramsan Kadyrow, berüchtigt durch seine paramilitärischen Banden, sind eher dazu geeignet, den Menschen Furcht einzuflößen, als ihr Vertrauen zurückzugewinnen.

Ein Jahr nach Beslan muss eine zwiespältige Bilanz gezogen werden. Die bislang ergriffenen Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus, um die Grundprobleme der Region wirklich anzugehen. Andere Schritte, wie die Abschaffung der Gouverneurswahlen, zeugen eher von Aktionismus als von überlegtem Handeln. Von einem Sieg über den Terrorismus und einer Stabilisierung der Region ist man heute genauso weit entfernt wie vor einem Jahr - mit all seinen möglichen Konsequenzen.