"Große Koalition auch ohne Schröder denkbar" Interview mit Deutschlandradio Kultur am 10. Oktober 2005

Erler: Große Koalition auch ohne Schröder denkbar

Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, kann sich eine Regierungsbeteiligung seiner Partei in einer großen Koalition auch ohne Bundeskanzler Gerhard Schröder vorstellen. Die Kritiker innerhalb der SPD könnten auch durch Inhalte überzeugt werden, eine CDU-Kanzlerin Angela Merkel mitzutragen, sagte Erler.

Ricke: Dreieinhalb Stunden hat das Spitzentreffen zwischen CDU/CSU und SPD gestern Abend gedauert. Bundeskanzler Gerhard Schröder, SPD-Parteichef Franz Müntefering, CDU-Chefin Angela Merkel und der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber. Sie alle gaben nach dem Treffen im Gebäude der Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin keine Stellungnahme ab. Ein Sprecher der SPD übernahm es zu sagen, man bleibe bei dem Plan, dass heute Morgen zunächst die Parteigremien informiert werden sollen. Gernot Erler ist einer der stellvertretenden SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzenden, er gehört der Parteilinken an. Guten Morgen Herr Erler.

Erler: Guten Morgen Herr Ricke.

Ricke: Es gibt ja in diesen Stunden - zumindest für die Öffentlichkeit - keine Informationen. Es gibt ein paar bewusst lancierte Gerüchte, aber nicht viel mehr. Vielleicht bekomme ich von Ihnen jetzt eine Einschätzung, das müsste ja gehen? Schwindet der Widerstand in Ihrer Fraktion gegen eine Bundeskanzlerin Angela Merkel?

Erler: So würde ich es nicht ausdrücken. Aber wir sind ein bisschen in der Situation wie Weihnachten vor der Bescherung. Wir erwarten nachher, heute Vormittag in den Spitzengremien, Auskunft darüber, wie das funktionieren soll. Und dabei wird schon sehr viel abhängen davon, was denn die SPD an inhaltlichen Positionen durchsetzen kann und verfolgen kann als Politik in einer großen Koalition. Davon wird am Ende auch die Reaktion abhängen und davon wird auch abhängen, wie es weiter geht.

Ricke: Wie groß ist denn der Verhandlungsspielraum, den die SPD-Fraktion dem Parteichef Franz Müntefering einräumt? Was traut man ihm zu, wie viel darf er entscheiden?

Erler: Ich glaube, wir sind jetzt direkt an der Kante zwischen zwei verschiedenen Phasen. In der bisherigen Phase hatten die beiden aus unserer Sicht, aus der Sicht der SPD, also Franz Müntefering und der Bundeskanzler Gerhard Schröder eine unbegrenzte Handlungsvollmacht. Sie durften über alles reden, sie durften auch alles zur Disposition stellen, sofern sie selber davon betroffen waren. Aber jetzt wird in beiden Parteien sich das Bild ändern. Jetzt kommen die Spitzengremien ins Spiel, die zustimmen müssen. Und von da an wird noch wichtiger sein, als was die beiden denken und die beiden anderen auf der anderen Seite natürlich auch, als das, was in den Spitzengremien eigentlich eine Bewertung stattfindet jetzt über die Ergebnisse oder über die Vorschläge, die wir da hören. Das ist eine neue Phase, die damit beginnt. Und die endet am Ende mit einem Parteitag auf beiden Seiten, die dann endgültig den Beschluss fassen müssen - diese beiden Parteitage - über eine Koalitionsvereinbarung.

Ricke: Letztlich gewählt wird die Bundeskanzlerin respektive der Bundeskanzler aber vom Parlament. Es ist also eine entscheidende Frage, wie sich die Menschen in der Fraktion stellen. Und ein nicht genanntes Mitglied ihres Vorstandes sagt heute in einer Zeitung, wenn Schröder der nächsten Regierung nicht mehr angehöre, werde es mit der Wahl Merkels ein großes Problem geben. Wie kann denn dieses Problem gelöst werden? Mit einer Rotation oder mit Gerhard Schröder als Vizekanzler?

Erler: Also dieses Problem kann im Prinzip auf ganz verschiedene Weise gelöst werden. Sie haben zwei Möglichkeiten eben angedeutet, die ja in den letzten Tagen und Wochen auch mehrfach besprochen worden sind. Aber natürlich kann man sich auch vorstellen, dass durch eine Vereinbarung auf Inhalte, auf ein Programm, das einige wichtige Punkte des SPD-Wahlprogramms widerspiegelt, auch diejenigen erreicht werden können, die sich im Augenblick nicht vorstellen können, dass sie so einer Lösung zustimmen können. Also es gibt die Variante mit Gerhard Schröder in verschiedenen Funktionen. Es ist alles klar, dass wir uns vor allem wünschen, dass er Bundeskanzler wird. Oder eben die zweitbeste Lösung, dass er dem Kabinett in einer führenden Rolle als Vizekanzler angehört. Aber es gibt natürlich auch die Variante - wir wissen ja nicht, wie er sich persönlich entscheidet, das hängt völlig von ihm ab - die Variante, dass auf dem inhaltlichen Bereich, auf dem Programmbereich so viel rausgeholt wird, dass es zu einer Zustimmung kommen kann.

Ricke: Über alles, was wir sprechen, alles dies basiert auf einer großen Koalition. Sie sehen keine andere Möglichkeit mehr, also Schwarz-Rot wird in jedem Fall kommen?

Erler: Nein, das kann man so nicht sagen. Es gibt ein ehrliches Bemühen auf beiden Seiten, das ist auch denen, die da im Augenblick die Verhandlungen führen, anzumerken. Und ich kann das auch für meine Fraktion sagen. Wir wissen, dass wir schlicht und einfach da einen Auftrag der Wähler im Augenblick haben. Denn wenn alles scheitert, das weiß jeder, gibt es Neuwahlen, von denen man sich nichts versprechen kann, weil die Umfragen, die wir bisher kennen, sagen, dass ungefähr dasselbe Ergebnis wieder rauskommen würde. Dann würden wir einen langen Umweg machen, ohne auch nur einen einzigen Schritt weiter zu kommen. Das will niemand. Und das drückt natürlich auf beide Seiten in Richtung Erfolg. Das zwingt uns gerade dazu, wirklich alles zu versuchen, um zusammen zu kommen. Aber theoretisch gibt es natürlich trotz der Verhaltensweisen der kleinen Parteien, die hier die entscheidende Rolle spielen, noch andere Möglichkeiten. Aber die kommen, glaube ich, erst wieder dann ernsthaft ins Spiel, wenn die große Koalition in der jetzigen Phase definitiv scheitern würde.

Ricke: Herr Erler, Sie werden - wenn es zu einer großen Koalition kommt - allerhand zu erklären haben. Zum Beispiel einem Ihrer Parteifreunde, einem ganz normalen Parteimitglied, das in Ihr Gästebuch geschrieben hat. Ich darf daraus kurz zitieren: \"Lieber Genosse Gernot, sollte die SPD-Bundestagsfraktion im Bundestag Frau Merkel die Kanzlerschaft ermöglichen, gebe ich mein Parteibuch zurück, definitiv. Man kann einer staatspolitischen Dilettantin nicht die Regierungsgeschäfte anvertrauen, ein SPD-Mitglied aus Freiburg\", Zitat Ende. Wie ernst nehmen Sie die Sorgen und die Nöte von Menschen, die so etwas schreiben?

Erler: Ja, das widerspiegelt eigentlich recht plastisch eine Stimmung, mit der wir konfrontiert sind durch den Wahlkampf. Durch das Ergebnis dieses Wahlkampfes sind große Erwartungen in der SPD geweckt worden. Und es wird nicht einfach sein, einmal solchen Freunden das zu erklären, wie dem, der da das geschrieben hat. Sondern es wird auch nicht so einfach sein, eben schlicht und einfach eine Mehrheit zu bekommen auf einem Parteitag. Und das wird eben letzten Endes tatsächlich davon abhängen, ob dann die Führung glaubhaft machen kann, dass in den kommenden vier Jahren wirklich viel von dem durchgesetzt werden kann, wofür wir in diesem Wahlkampf gekämpft haben. So dass eben dann eigentlich so ein bisschen nach dem Motto \"auf die Kanzlerin kommt es eben doch nicht nur an\", solche Bedenken ausgeräumt werden können. Aber das wird nicht einfach, das wissen wir sehr gut. Und schon heute kann man sagen, dass wird Schwierigkeiten auf beiden Seiten geben. Denn im Prinzip sind die anderen - ich sage jetzt mal die CDU/CSU, umgekehrt auch in keiner leichten Lage, weil dort natürlich Bedenken laut sind, dass zu viel Zugeständnisse in der Sache gemacht werden. Und der Preis sozusagen für die Kanzlerin Angela Merkel immer höher getrieben wird, das ist dort ein Thema. Und bei uns ist eben das Thema, wie lässt sich das verkraften, nicht, eine solche Anwartschaft auf Kanzler zu akzeptieren. Das geht nur über ein klares inhaltliches Programm, das starke Züge der SPD trägt.

Ricke: Vielen Dank Gernot Erler, er ist einer der stellvertretenden Bundestagsfraktionsvorsitzenden.