Erler für Vertagung der Personalentscheidungen in der SPD, Interview im Deutschlandfunk, 1. November 2005

Erler für Vertagung der Personalentscheidungen in der SPD

Moderation: Stefan Heinlein 

Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, Gernot Erler, hat sich dafür ausgesprochen, beim Parteitag in zwei Wochen alle Personalentscheidungen zu vertagen und somit Parteichef Müntefering zunächst im Amt zu halten. Der Parteivorstand könne beschließen, dass in Karlsruhe lediglich über einen Koalitionsvertrag mit der Union abgestimmt werde, sagte Erler.

Heinlein: Bei mir am Telefon ist nun SPD-Fraktionsvize Gernot Erler. Guten Morgen.

Erler: Guten Morgen, Herr Heinlein.

Heinlein: Viele Fragen also am morgen danach; erst einmal zu Ihrer Partei: Sind Sie enttäuscht von Ihrem Genossen im Vorstand?

Erler: Ich bin schockiert über das Ergebnis von dieser Entscheidung, aber ich will zunächst mal gleich sagen: Das hat mit einem Linksruck in der Partei überhaupt nichts zu tun. Die Fragestellung war hier eine ganz andere. Es hat noch nie eine Zeit gegeben, wo der Bundeskanzler und der Parteivorsitzende so viel Zustimmung, so viel Vertrauen, ja ich würde sagen, so viel Handlungsauftrag hatten wie jetzt und das wird von allen auch als notwendig angesehen für diese Phase bis wir den Koalitionsvertrag in der Tasche haben und bis auf dem Parteitag der Versuch gemacht werden muss, dann für dieses Ergebnis auch eine Mehrheit zu kriegen. Dafür ist die Autorität des Erfolges, die sich geheftet hat an Franz Müntefering und auch an Gerhard Schröder, unverzichtbar und das ist eigentlich das Schlimme an dem Ergebnis von gestern, dass diese Autorität durch die Reaktion auf das Ergebnis hier von Franz Müntefering leider in Frage gestellt worden ist.

Heinlein: Sie reden von Vertrauen und von Autorität, aber hat Franz Müntefering nicht gerade in diesen beiden Punkten gestern eine Fehleinschätzung zutage gebracht?

Erler: Ich glaube, hier gibt es ein Missverständnis. Das Missverständnis war das, dass Franz Müntefering wollte, dass dieses System, was sich jetzt so bewährt in dieser Übergangsphase, was man auch das System Franz Müntefering nennen könnte, eine sehr enge Führung, dass dieses System notwendig von allen angesehen wird für diesen schwierigen Übergang in die große Koalition, er wollte es aber als Dauerstrukturprinzip einrichten, auch für die Zukunft und da gab es eine Mehrheit, die mehr ein - ich möchte es mal so nennen - multipolares Führungssystem haben wollte. Und daraus ist dieses Missverständnis entstanden. Alle wollten auf keinen Fall die Autorität von Franz Müntefering beschädigen, das möchte ich wirklich niemandem unterstellen, der hier seine Wahl zum Beispiel für Andrea Nahles gefällt hat, alle wollten mit Franz Müntefering und Gerhard Schröder in diesen Parteitag gehen, aber danach - und da begann das Missverständnis - waren die Vorstellungen darüber, wie Führung zu organisieren ist, danach einfach unterschiedlich.

Heinlein: Nun gab es aber diese Missverständnisse, diese Fehleinschätzungen von beiden Seiten. Wie geht es jetzt weiter? Ihr Parteigenosse Poß fordert den Rücktritt des gesamten SPD-Vorstandes.

Erler: Ich kann nicht erkennen, was das uns im Augenblick nützt, weil ich denke, gerade jetzt ist die gewählte Parteiführung gefordert, eine sehr erwachsene Entscheidung zu treffen morgen, denn ich weiß gar nicht, wie wir ohne die Autorität von den beiden genannten Führungspersönlichkeiten, von Gerhard Schröder und auch von Franz Müntefering erstens die Verhandlungen hier zu einem guten Abschluss zu bringen, ich finde, die sind auf einem doch hoffnungsspendenden Weg, aber die Schwierigkeiten sind ja noch nicht überwunden, und wie man das dann auch dem Parteitag vermitteln kann und die Entscheidung von morgen, die muss auch Auskunft darüber geben, wie das dann funktionieren kann, ohne dass man das ganze Projekt jetzt dieser neuen Partnerschaft überhaupt in Frage stellt.

Heinlein: Sie sprechen die Entscheidung morgen an, es geht um die künftige Struktur an der SPD-Spitze. Zwei Namen sind ja im Gespräch: Platzeck oder Beck als Müntefering-Nachfolger. Für wen sind Sie denn?

Erler: Also ich will Ihnen sagen, dass ich mir nicht so richtig vorstellen kann, wie wir dieses Problem lösen. Es geht ja nicht darum, einfach jemanden zu benennen, sondern die Frage lautet ja - und die haben Sie eben auch angedeutet bei Ihrem Fragenkatalog - wie kann sich denn in 14 Tagen eine neue Autorität aufbauen, die stark genug ist, dann dieses Ergebnis der Verhandlungen dem Parteitag zu vermitteln und da dann am Ende eine Diskussion zu organisieren, an deren Ende auch eine vernünftige Entscheidung steht. Ich halte das fast für ein unmögliches Unterfangen, deswegen kann ich mir gar nichts anderes vorstellen als dass morgen eine Entscheidung getroffen werden muss, die klar sagt, dass das nur mit Franz Müntefering geht, auf diesen Parteitag zu gehen, und dass ein Weg gefunden werden muss, der möglichst wenig jetzt stehen lässt von dieser Selbstbeschädigung, die da gestern passiert ist.

Heinlein: Also verstehe ich Sie richtig, Franz Müntefering sollte auch nach dem Parteitag im Amt bleiben als Parteivorsitzender? Er hat dies ja ausgeschlossen.

Erler: Er hat ausgeschlossen, dass er kandidiert für eine anstehende Neuwahl, aber ich habe eine ganz persönliche - das ist wirklich mit niemandem abgesprochen - Vorstellung, die so lauten könnte, dass der Parteivorstand beschließt, dem Parteitag vorzuschlagen, in Karlsruhe am 14. und 15. November nur über den Koalitionsvertrag zu entscheiden und dann den Parteitag zu unterbrechen und die ganzen Personalentscheidungen erst zu einem späteren Zeitpunkt zu treffen. Das würde es ermöglichen, ohne dass man da irgendeine Ankündigung korrigieren muss, diese schwierige Übergangsphase in diese neue Verbindung, in diese neue Koalition zu organisieren und auch zu führen und dann eben zu einem späteren Zeitpunkt die normalen Personalwahlen, die mit so einem normalen Parteitag verbunden sind, nachzuholen.

Heinlein: Das würde aber auch die Personalie Andrea Nahles noch einmal in Frage stellen.

Erler: Das würde bedeuten, dass man die Entscheidung insgesamt über das ganze Tableau nach hinten verschiebt eben. Es ist eine außergewöhnliche Situation und manchmal ist es so, dass außergewöhnliche Situationen eben auch außergewöhnliche Antworten erfordern.

Heinlein: Warum haben denn Matthias Platzeck und Kurt Beck nicht die notwendige Autorität, um diese schwierigen inhaltlichen Kompromisse dann innerhalb ihrer Partei durchzusetzen? Ist das, was wir gestern erlebt haben, ein Vorgeschmack auf Flügelkämpfe in Ihrer Partei, wenn es denn zur großen Koalition kommt?

Erler: Das wäre es nur, wenn tatsächlich diese Entscheidung eine irgendwie Links-Rechts-Entscheidung gewesen wäre, aber ich habe ja schon gesagt, dass ich das anders sehe. Und natürlich haben die beiden genannten Kollegen sehr große Autorität, aber es ist nun mal so, dass in diesem Wahlkampf wegen des Erfolgs dieses Wahlkampfes und bei der doch sehr gelungenen Arbeit danach, in den Wochen danach, hier ganz kurzfristig hier ein Personaltableau zu erstellen, die Verhandlungen anzufangen, einige Punkte da vorab durchzusetzen, da hat sich eben diese Autorität des Erfolges nun mal verbunden, vor allen Dingen mit Franz Müntefering und deswegen sage ich, dass es sehr schwierig sein wird, für wen auch immer, innerhalb von 14 Tagen eine solche Autorität zu bekommen, die man braucht, um den Parteitag dann auch zu überzeugen.

Heinlein: Also der Wille, die große Koalition auf den Weg zu bringen, ist nach wie vor vorhanden in ihrer Partei?

Erler: Ich glaube ganz sicher, dass dieser Wille da ist, wir sind ja auch ein ganzes großes Stück schon vorangekommen und wir wissen doch alle, dass es keine wirklich glaubwürdige Alternative dazu gibt und dass am Ende womöglich nur noch der einzige Ausweg, der auch keiner ist, der nur ein scheinbarer ist, nämlich Neuwahlen - alle Umfragen, die wir haben, sagen, dass die Konstellation hinterher ungefähr dieselbe wäre wie vorher und deswegen kann das keiner wollen. Wir stehen hier in der Verantwortung, eine stabile und eine erfolgreiche Regierung für die nächsten vier Jahre auf die Beine zu stellen und dazu brauchen wir diese Autoritäten, die ich beschrieben habe.