Das Scheitern der Ordnungsmacht als Pforte zur Systemrevolte?

Weltordnung ohne Hegemon

Frankfurter Hefte/Neue Weltordnung, 1/2 2015

 

Als die Ordnung des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation zerbröselte, musste etwas Neues kommen. Es gab viel Optimismus, man sprach von »Friedensdividende«, ja vom »Ende der Geschichte«. Die Sowjetunion und der Warschauer Vertrag lösten sich 1991 auf. Ein Machtvakuum entstand. Eine ganze Gruppe von Ländern suchte nach einer neuen Zukunft. George Bush sprach von einer »Neuen Weltordnung« und meinte damit eine »Pax Americana«, garantiert durch die politisch-militärische Macht der »unverzichtbaren Weltmacht« USA und ihrer Verbündeten. Irgendeine Rolle für die Verlierer der Systemkonkurrenz in Moskau war da nicht vorgesehen. Dort interessierte sich zunächst auch niemand für diesen amerikanischen Anspruch auf Unipolarität: Die Menschen waren mit ihrem privaten Überlebenskampf beschäftigt und mit dem Umbau ihrer eigenen, nationalen Ordnung.

Die Weltordnung von Bush senior blieb, historisch gesehen, eine Episode. Amerikas Macht wurde auf die Probe gestellt. Die al-Quaida-Terrorakte vom 11. September 2001 verhöhnten den amerikanischen Weltmacht-Anspruch. Mit allen, vornehmlich militärischen Mitteln zurückschlagen, um Autorität und Ordnungsmachtrolle zu retten, lautete die Devise. Heute wissen wir, was aus der Idee geworden ist, am besten gleich alle Störer der »Pax Americana« in die Knie zu zwingen und mit der »Achse des Bösen« aufzuräumen: 13 Jahre Krieg in Afghanistan, acht Jahre Krieg im Irak. Zum Ergebnis gehört die Machterweiterung islamistischer Terrorgruppen wie des IS, die sich die Wehrunfähigkeit gleich mehrerer verfallender Staaten in einer geopolitisch wichtigen Region zunutze machen und sich immer weiter ausbreiten. Die Unipolarität endet, nach einer historischen Minute ihrer Wirksamkeit, in Ohnmacht.

Amerika kann die Rolle einer globalen Ordnungsmacht nicht mehr ausfüllen. Barack Obama will bei der Nachwelt wenigstens als der in Erinnerung bleiben, der diese zwei Kriege beendet hat. Deshalb sollen Luftangriffe die Stellungen des »Islamischen Staates« zerstören, aber »Stiefel am Boden« bleiben ausgeschlossen. Amerika fühlt sich auch eher durch die aufsteigende Weltmacht China herausgefordert. Die Gewichtsverlagerung nach Asien (Pivot to Asia) will das pazifische Jahrhundert der Vereinigten Staaten einleiten. Der Schiefergas-Boom vereinfacht diese Blickwendung: Der Mittlere Osten wird zur amerikanischen Energieversorgung praktisch nicht mehr gebraucht. Die Interventionsmüdigkeit der US-Gesellschaft lässt sich nachvollziehen, so aber endet auch der alleinige Blick auf Washington, wenn es um die Frage der Ordnungsmacht geht.

Wer kommt noch in Frage? Die Vereinten Nationen könnten theoretisch diese Aufgabe übernehmen. Aber heute mehr als je zuvor ist die wichtigste Weltorganisation ineffizient, nicht repräsentativ und blockiert. Es ist eine Tragödie, dass sie sich nicht weiterentwickeln kann, dass sie im Sicherheitsrat weiter auf ständige Vertreter aus Afrika und Lateinamerika verzichten muss und dem Missbrauch des Vetorechts durch die Permanent Five hilflos ausgesetzt scheint. Weil Russland über die westlichen Sanktionen erbost ist, kommt bisher kein einziger Beschluss in Sachen IS zustande. Mit dieser Struktur bleibt der UNO jede Perspektive einer Ordnungsmacht von Weltgeltung verwehrt.

Und wie sieht es mit der Europäischen Union aus? Auf dem eigenen Kontinent gibt es Leistungen und Erfolge: Frieden, Prosperität, Solidarität. Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 hat vielen Kritikern Bestätigung verschafft, aber die drei Versprechen wurden letztlich eingelöst. Jenseits ihrer eigenen Grenzen konzentriert sich die EU auf ihre Regionalstrategien, die ein stabiles, für die Wertevorstellungen der Union offenes Umfeld schaffen sollen. Das reicht von der Ostseekooperation über die Europäische Nachbarschaftspolitik im Osten bis zur Mittelmeerunion, der Schwarzmeerinitiative und der Zentralasienstrategie. Aber im Moment steht Brüssel vor den Trümmern einer dieser Regionalstrategien, nämlich der 2009 begonnenen »Östlichen Partnerschaft«. Die sechs Länder dieser Zwischenregion – Ukraine, Weißrussland, Moldawien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan – sollten trotz der ungelösten und hinderlichen eingefrorenen Konflikte zu verstärkter grenzüberschreitender Zusammenarbeit angeregt werden. Für die Annäherung an die EU und ihr Wertesystem startete Brüssel mit fünf der sechs Partnerländer (Weißrussland blieb wegen innenpolitischer Defizite unberücksichtigt) Verhandlungen über Assoziierungsabkommen, die mit umfassenden Freihandelsregimes verbunden waren.

Die Bilanz ist entmutigend. Über die innerukrainischen Auseinandersetzungen um das Assoziierungsabkommen mit der EU entwickelte sich der ernsthafteste Konflikt zwischen Russland und dem Westen nach Ende des Kalten Krieges. Georgien und Moldawien haben auch Assoziierungsabkommen abgeschlossen, sind damit aber unter extremen politischen und wirtschaftlichen Druck durch Moskau geraten. Armenien zollte seiner faktischen politischmilitärischen Abhängigkeit von Moskau Tribut und entschied sich im September 2013, das Projekt mit der EU aufzugeben und stattdessen der von Russland dominierten Zollunion, die am 1. Januar 2015 zur »Eurasischen Wirtschaftsunion« mutieren soll, beizutreten. In Baku hält man sich nach beiden Seiten bedeckt, während sich Minsk in der Ukraine-Krise als politischer Vermittler zu profilieren verstand. Die Region ist im Ergebnis mit enormen politischen Spannungen konfrontiert und erscheint politisch fragmentiert – also das Gegenteil von dem, was die »Östliche Partnerschaft« anstrebte. Das kann wohl kaum als Empfehlung für eine Ordnungsmacht EU gewertet werden.

Wir befinden uns aktuell in einer Weltordnung ohne Hegemon, ohne wirksame Ordnungsmacht und über weite Strecken ohne Ordnung. Das als »multipolare Struktur« zu bezeichnen, wäre ein Euphemismus. Und es würde ablenken von der Allgegenwärtigkeit der Krise. In seiner Auseinandersetzung mit dem Westen, das wird immer deutlicher, folgt Präsident Putin eigenen Wahrnehmungen, trifft risikoreiche Entscheidungen und ignoriert selbst eingegangene Verpflichtungen in einer Weise, dass dies jede Vorstellung von Weltordnung provozieren muss.

Der europäische Westen hat den unipolaren Machtfantasien der Amerikaner nie so ganz vertraut und ist zum Teil George W. Bush auf seinem Weg in den Irakkrieg nicht gefolgt. Stattdessen baute man an einer »Europäischen Friedensordnung«, die sich auf vertragliche Festlegungen, auf Werte und Prinzipien stützte und ein partnerschaftliches Verhältnis mit der Russischen Föderation anstrebte. Hierzu gehörte das gemeinsame Bekenntnis zur Schlussakte von Helsinki von 1975 und zur Charta von Paris von 1990 sowie die Zusammenarbeit in der OSZE. Die Weiterexistenz und Erweiterung der NATO sollte ausbalanciert werden durch die NATO-Russland-Grundakte von 1997 und die Kooperation im NATO-Russland-Rat seit 2002. Die EU schloss mit Moskau ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen ab (1997), Putins Revolte gegen die globale Ordnung veranstaltete regelmäßige EU-Russland-Gipfel, sprach von »Strategischer Partnerschaft mit Russland« und startete 2010, einer deutschen Initiative folgend, das Programm einer Modernisierungspartnerschaft mit Russland. Im Übrigen vertraute man auf die Stabilisierungs- und Konfliktverhütungswirkung von wirtschaftlicher Verflechtung und Interdependenz, besonders sichtbar im Bereich der europäischrussischen Energiebeziehungen. Was sollte falsch sein an diesem Weg und dem dazugehörigen Narrativ von fairer Partnerschaft bei wechselseitigem Nutzen?

Die reale Existenz dieser Elemente einer »Europäischen Friedensordnung« hinderte die russische politische Klasse nicht, das alles ganz anders zu sehen. Der Westen, geführt von den USA, habe die Schwächephase Russlands schamlos ausgenutzt und nie Respekt vor Moskau gezeigt. Die Liste der Belege bleibt gleich: Osterweiterung von NATO und EU, Kosovo-Krieg und Kosovo-Anerkennung, Irak-Krieg, Anti-Raketenprogramm,die »farbigen Revolutionen« in Russlands Nachbarschaft, angeblich angeschoben von US-Diensten und US-Stiftungen. Seit Putins Wutrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 kannte der Westen dieses völlig andere Narrativ, verstaute es aber schulterzuckend in der Ablage.

Jetzt, im Ukraine-Konflikt, sind diese beiden Züge aufeinandergeprallt. Moskau deutete das EU-Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der Ukraine und die Vertreibung des prorussischen Präsidenten auf dem Maidan als geopolitische Attacke auf die russische Einflusszone, natürlich orchestriert, wie schon bei der »Orangenen Revolution«, von amerikanischen Institutionen. Die rabiate politische Antwort mit der Annexion der Krim und der fortgesetzten Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine stellt nach weitverbreiteter Meinung die Europäische Friedensordnung in Frage. Denn gegen die feierlichen Verpflichtungen und den gemeinsamen Wertekanon dieser Ordnung hat Russland massiv verstoßen und setzt dies weiter fort, offenbar auch von dem westlichen Sanktionsmechanismus nicht aufhaltbar.

Aber besteht überhaupt die Chance auf Umkehr? Trotzig und bedrohlich klingen die neuen Optionen, die in Moskau diskutiert werden: eine russische Zukunft, die sich befreit von den lästigen Wertedisputen mit dem Westen, die auf ökonomische Autarkie, militärische Stärke und eine neue Identität im Kontrast zur westlichen Dekadenz und mit Blickkontakt auf die asiatische Nachbarschaft setzt und Putins Idee einer »Souveränen Demokratie« folgt, die sich von keinem mehr reinreden lässt. Womöglich entsteht da ein Gesellschaftsmodell in unserer Nachbarschaft, das behauptet, die Zwangsläufigkeit der Globalisierungsprozesse aushebeln und auf regelbasierte Weltordnungen verzichten zu können. Noch sehen wir mehr Wagenburg als Strategie, aber russische Partner, die sich eine Zukunft des Landes ohne gemeinsame Modernisierung mit dem Westen nicht vorstellen können, sind bereits alarmiert – während der Applaus von der weltweiten nationalistischen Szene immer lauter wird.

Von der »Einzigen Weltmacht« über das Scheitern der Europäischen Friedensordnung zu einer nationalistisch geprägten Negierung von globaler Ordnung überhaupt –lautet so das Stenogramm für das letzte Vierteljahrhundert? Wenn sich das bestätigt, wird die Debatte über eine »Neue Weltordnung« viele bisherigen Prämissen über Bord werfen und an einem unerwarteten Point Zero neu beginnen müssen.