Erler: Die orange Zeit in der Ukraine geht offenbar zu Ende

Interview mit der Deutschen Welle, 15. Juni 2006 • Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt, rechnet damit, dass es zu einer großen Koalition zwischen Juschtschenko und dessen einstigem Rivalen Janukowitsch kommen könnte. Ein Interview von DW-RADIO/Ukrainisch.

DW-RADIO/Ukrainisch: Herr Erler, Sie sind soeben aus der Ukraine zurückgekehrt. Fast drei Monate nach den Parlamentswahlen gibt es immer noch keine Regierungskoalition in Kiew. Was ist Ihr Eindruck? Woran liegt das?

Gernot Erler: Das liegt daran, dass es erhebliche Unterschiede in den Auffassungen zwischen den drei so genannten „orange Parteien", also dem „Block Julia Tymoschenko", „Nascha Ukraine" und der Sozialistischen Partei gibt. Diese Unterschiede haben praktisch zu einem Abbruch der Koalitionsgespräche geführt. Ich komme mit dem Eindruck zurück, dass schon sehr klar und sehr detailliert in Wirklichkeit eine ganz andere Koalition vorbereitet worden ist, nämlich eine Koalition zwischen „Nascha Ukraina", also der Partei von Präsident Juschtschenko, die ein sehr schlechtes Wahlergebnis hatte am 26. März mit nur 14 Prozent der Stimmen, und der stärksten Partei, der „Partei der Regionen" von Viktor Janukowitsch. Das bedeutet, dass wir damit rechnen müssen, dass die orange Zeit in der Ukraine zu Ende geht.

DW-RADIO: Ist das eine Enttäuschung für Sie und die deutsche Politik?

Gernot Erler: Es ist völlig klar, dass es ein sehr großes Interesse und auch eine große Sympathie für die orange Bewegung nicht nur in Deutschland, ich glaube in ganz Europa und in den Vereinigten Staaten gegeben hat, so dass auf jeden Fall hier eine Ernüchterung eintreten wird. Aber man muss abwarten, welche Inhalte dann tatsächlich von dieser möglicherweise gebildeten neuen Regierung ausgehen und wie stabil sie ist. Man darf nicht vergessen, dass die Partei „Unsere Ukraine - Nascha Ukraina" von Präsident Juschtschenko eine wichtige Kraft in der orange Revolution war. Ich kann mir vorstellen, dass erhebliche Teile dieser Partei und auch vor allen Dingen die Wählerschaft dieser Partei große Schwierigkeiten haben würden, diesen Schwenk mit- und nachzuvollziehen.

DW-RADIO: Könnte eine Koalition zwischen Juschtschenko und der Partei der Regionen dazu beitragen, innenpolitische Gräben in der Ukraine zu überwinden?

Gernot Erler: Das ist eine zulässige Spekulation. Es wäre erstens einmal prinzipiell nicht einfach, eine Koalition gegen die stärkste Partei zu bilden. Die Partei der Regionen hat bei den Wahlen 32 Prozent der Stimmen gewonnen und ist damit stärkste Partei. Allein schon die Einbeziehung der stärksten Partei kann ein stabilisierender Faktor sein kann. Und dann ist natürlich immer diese gewisse Gefahr der Spaltung des Landes da gewesen, weil die Partei der Regionen ihren Schwerpunkt in den ostukrainischen Gebieten hat und dort vor allen Dingen auch den russisch-sprachigen Teil der Ukraine vertritt. Wenn dieser völlig ausgeschlossen würde aus der Regierung, kann das die politische Spaltung vertiefen. Insofern bestehen - nüchtern betrachtet - durchaus Chancen bei einer solchen Koalition. Aber das hängt natürlich auch davon ab, wie entscheidende Positionen verteilt werden, was also der Preis ist, den die Partei der Regionen zu zahlen hat für eine Koalition mit der Juschtschenko-Partei. Und es wird davon abhängen, auf welches Programm man sich einigt. Ich habe mit Premierminister Jechanurow und mit Viktor Janukowitsch gesprochen. Und da hatte ich den Eindruck, dass es im Grunde genommen schon ein fertiges Konzept in der Schublade gibt, was allerdings noch keiner kennt.

DW-RADIO: Was kann nun Deutschland tun, um der Ukraine im demokratischen Reformprozess zu helfen?

Gernot Erler: Es ist klar, dass wir weiter ein sehr großes Interesse an der Fortsetzung der notwendigen Reformen in der Ukraine haben. Hier wird vor allem die Politik der neuen Nachbarschaft der EU eine wichtige Rolle spielen. Im Jahr 2008 läuft das bisherige Partnerschafts- und Kooperationsabkommen aus. Es laufen schon Gespräche, die allerdings jetzt unterbrochen worden sind, weil es keine handlungsfähige Regierung gibt - und das schon seit mehr als 80 Tagen seit den Wahlen! Aber es haben schon Gespräche begonnen über eine Fortsetzung, eine nächste Stufe des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und der Ukraine. Man spricht dabei von einer so genannten erweiterten Vereinbarung, z.B. auch über Beteiligung der Ukraine an der europäischen Freihandelszone. Aber das hängt natürlich ab, ob endlich eine handlungsfähige Regierung gebildet wird. Dann ist natürlich auch die Frage, welches Interesse diese Regierung haben wird an einer Fortsetzung der Kooperation mit der EU. Auch dazu habe ich Viktor Janukowitsch, der ja offensichtlich wieder eine große Rolle spielen wird, befragt. Und da habe ich eigentlich sehr konstruktive Antworten auf diese Fragen bekommen.

DW-RADIO: Eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine steht zurzeit nicht auf der Tagesordnung. Aber: Könnte die fernere Perspektive auf eine Mitgliedschaft der Ukraine helfen, den Reformprozess fortzusetzen?

Gernot Erler: Die Formulierung, die hier von allen Seiten in der EU gebraucht wird, ist die Politik der offenen Tür. Aber alle sind sich darüber einig, dass im Augenblick etwas anderes als diese sehr interessanten Angebote der europäischen Nachbarschaftspolitik mit dem Aktionsplan, der für drei Jahre schon ausgearbeitet worden ist, nicht in Frage kommt. Aber das schließt eine Mitgliedschaftsperspektive keineswegs aus, obwohl sie nicht ausdrücklich genannt wird. Denn das ist ja in der Umsetzung praktisch eine Art Umsetzung des Acquis Communautaire, des europäischen Gemeinschaftsrechts. Insofern wird die Ukraine, wenn sie tatsächlich die Reformen durchführt, auch geeignet sein für eine europäische Integration. Und dazu gibt es eigentlich keine Alternative. Und dafür gibt es auch viel Verständnis bei der politischen Elite in der Ukraine.

DW-RADIO: Herr Erler, während Ihres Aufenthalts in Kiew wurde auch über eine Zusammenarbeit im Energiesektor gesprochen. Welche Rolle spielt Russland in diesen Überlegungen?

Gernot Erler: In der Ukraine ist man natürlich sehr daran interessiert, dass Deutschland seinen Einfluss nutzt, um Russland von einer Politik abzubringen, bei der der Eindruck entstehen kann, dass die „Energie-Karte" als politisches Instrument genutzt wird. Ich habe hier vor Augen den russisch-ukrainischen Gasstreit von Anfang dieses Jahres mit dem dramatischen Zudrehen der Hähne. Vom 15. bis 17. Juli findet in Sankt Petersburg der Gipfel der G-8 statt. Russland selbst hat das Thema Energiesicherheit auf die Tagesordnung gesetzt. In der Ukraine ist man sehr daran interessiert, dass die G-8 und gerade auch Deutschland auf die russische Seite einwirken, damit konkrete Ergebnisse herauskommen, die möglichst in Richtung der Prinzipien der Europäischen Energie-Charta gehen, also eine politische Instrumentalisierung der Energiebeziehungen ausgeschlossen wird. Das ist es ganz konkret, was die Ukraine von uns erwartet. Deutschland wird dieses Thema bei dem G-8-Gipfel ansprechen. Von Russland selbst ist es in das Zentrum der G-8-Präsidentschaft gestellt worden.

DW-RADIO: Es gibt noch ein Thema, das sowohl die Ukraine als auch Russland sehr berührt. Das ist die mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. In den letzten Wochen hat Russland sehr scharf gegen eine solche Mitgliedschaft protestiert. Können solche Erklärungen dazu führen, dass die NATO der Ukraine die Tür dann doch zuschließt?

Gernot Erler: Nein! Es ist eine ganz klare Position der EU, aber auch der Vereinigten Staaten, Russland auf gar keinen Fall eine Art Vetorecht gegen eine solche Entscheidung zu geben. Das findet auf einer anderen Schiene statt. Die Frage ist, wie reif die Ukraine ist in ihren Bemühungen in der Sicherheitspolitik, bei der Lösung von Konflikten auch an den Grenzregionen, wie sie mit der Armeereform vorangekommen ist usw. Es kommt also auf die Fortschritte an, welche Entscheidung hier getroffen wird. Aber wir haben jetzt eine völlig neue Konstellation: Es muss damit gerechnet werden, dass wir eine Regierung bekommen, die von der Partei der Regionen angeführt wird. Und die ist nun nicht gerade dafür bekannt, dass sie die NATO-Mitgliedschaft anstrebt. Ohne einen klaren Willen der Mehrheit im Parlament und ohne eine klare Mehrheit in der Bevölkerung kann ich mir eine entscheidungsreife Situation nicht vorstellen. Es ist tatsächlich so, dass das Thema NATO in der ukrainischen Bevölkerung anders bewertet wird, als von den Vertretern der orange Revolution. Wenn es zu einer so genannten großen Koalition kommt, werden meines Erachtens die Karten bei diesem Thema völlig neu gemischt.

DW-RADIO: Eine letzte Frage: Die EU unterstützt die Ukraine und Moldova bei der Grenzsicherung in Transnistrien. Wie bewerten sie den Einsatz der Ukraine für eine Lösung des Transnistrien-Problems?

Gernot Erler: Ich war an der ukrainisch-transnistrischen Grenze und habe mir dort die so genannte EU-BAM, die Border Assistant Mission, also was die EU dort macht, angeschaut. Hier gibt es eine sehr gute und sich sehr positiv entwickelnde Zusammenarbeit der ukrainischen Seite mit dieser europäischen Mission, die unterstützen soll, ein neues Grenz- und Zollabkommen durchzusetzen. Wir machen Fortschritte bei der Bekämpfung von unkontrollierten Grenzübertritten und vor allen Dingen von Schmuggel. Hier sind wir der Ukraine sehr dankbar, dass sie durchaus mutig in der damaligen Situation im Wahlkampf an die Umsetzung dieses Zoll- und Grenzabkommens gegangen ist. Sie nimmt die Unterstützung der EU an. Viele der Ratschläge werden gemeinsam umgesetzt. Dies ist eine gute Voraussetzung, um im Transnistrien-Konflikt über Verhandlungen, die allerdings im Augenblick unterbrochen sind, voran zu kommen. Sie sind unterbrochen, weil sich die Regierung in Tiraspol, also Herr Smirnow, und auch die russische Seite, gegen die Umsetzung dieses Grenzabkommens gewandt haben - man kann schon sagen aus Frustration darüber, dass es trotzdem umgesetzt wird. Die Unterbrechung kann sich möglicherweise noch hinziehen bis zum G-8-Gipfel im Juli.

Das Interview führte Wolodymyr Medyany
DW-RADIO/Ukrainisch, 15.6.2006, Fokus Ost-Südost