Erler äußert Verständnis für israelisches Sicherheitsinteresse

Interview im Deutschlandfunk, 17. Juli 2006 • Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler, hat Verständnis für das Vorgehen Israels im Libanon geäußert. Durch die vergrößerte Reichweite von Raketen der Hisbollah sei Israel wesentlich verwundbarer geworden, sagte der SPD-Politiker. Die israelische Armee könne die Sicherheit des Landes nicht mehr garantieren. Erler betonte, es gebe keine Alternative zu einem sofortigen Waffenstillstand und anschließenden Verhandlungen mit allen Beteiligten.

Doris Simon: Im Libanon und in Israel schlugen auch gestern Raketen und Bomben ein. Und das prägte nachhaltig die Diskussion am Konferenztisch der Staats- und Regierungschefs auf dem G8-Gipfel in Sankt Petersburg. Stundenlang wurde um eine Resolution gerungen, denn die Gipfelteilnehmer hatten sehr unterschiedliche Ansichten über Schuld und Verantwortung in der derzeitigen Krise. Sie einigten sich schließlich aber doch auf einen gemeinsamen Text, den Bundeskanzlerin Angela Merkel so zusammenfasste:

"Wir wollen nicht zulassen, dass terroristische Kräfte und diejenigen, die sie unterstützen, die Chance bekommen, im Nahen Osten ein Chaos anzurichten. Und deshalb legen wir Wert darauf, dass Ursache und Wirkung der Ereignisse klar benannt werden. Wir fordern, dass zuerst einmal die israelischen Soldaten unbeschädigt und gesund wieder zurückgegeben werden müssen, dass die Angriffe auf Israel aufhören müssen und dass dann natürlich auch die militärischen Aktionen Israels beendet werden müssen. Wir sind der festen Überzeugung, dass der Regierung des Libanon jede Unterstützung gegeben werden muss, dass auch die entsprechenden UN-Resolutionen für den Süden Libanons umgesetzt werden müssen. Und dazu fordern wir, dass zusätzlich zu den UN-Aktivitäten auch noch eine Beobachter- und Sicherheitsmission eingerichtet wird. Das muss durch die UNO ausgestaltet werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern auf dem G8-Gipfel in Petersburg. Am Telefon ist nun Gernot Erler (SPD), er ist Staatsminister im Auswärtigen Amt, guten Morgen!

Gernot Erler: Guten Morgen, Frau Simon!

Simon: Herr Erler, eine Verständnisfrage am Anfang: Heißt das im Umkehrschluss, dass Israel den Libanon solange weiter angreifen kann, bis die israelischen Geiseln frei sind und die Hisbollah ihre Angriffe eingestellt hat?

Erler: Nein. Also die gemeinsame Position der Staats- und Regierungschefs der G8 sprechen von der Notwendigkeit, sofort die Gewaltakte zu beenden und appellieren auch an Israel auf äußerste Zurückhaltung. Also das ist eine Position, die sich in gleicher Weise an beide Seiten richtet.

Simon: Die Bundeskanzlerin hat davon gesprochen, dass man jegliche Unterstützung der Regierung des Libanons zukommen lassen muss. Eine ganz schwache Regierung, die keinerlei Einfluss anscheinend auf die Hisbollah hat. Was kann man denn da noch helfen?

Erler: Ich glaube, der Punkt ist insofern wichtig, weil er auch auf einen Widerspruch in der Vorgehensweise von Israel hindeutet. Diese Luftschläge sollen ja die Freilassung der gefangenen Soldaten erzwingen. Sie zerstören aber die Infrastruktur des Landes, schwächen die ohnehin nicht sehr starke Regierung. Wie soll die dann erreichen, dass tatsächlich die Hisbollah den Süden verlässt und auf ihre Aktivitäten dort verzichtet? Und außerdem gibt es ja eine Erfahrung damit, wenn man auf eine innere Kontroverse der libanesischen Politik setzt - das ist ja auch die Folge von diesen Angriffen, diese Auseinandersetzungen haben innerhalb von Libanon schon begonnen - und da haben wir eine schreckliche Erfahrung von 16 Jahren Bürgerkrieg hinter uns im Libanon, was auch nicht zur Sicherheit von Israel beigetragen hat. Also insofern weist dieser Punkt darauf hin, dass es keine andere Lösung gibt, als jetzt einen Waffenstillstand zu machen und dann in Gespräche einzutreten, wobei durchaus die westliche Gemeinschaft hier die Verantwortung dafür hat, dass diese Gespräche dann frei und fair und alle Seiten berücksichtigend tatsächlich ablaufen.

Simon: Das heißt aber - das ist logisch, was Sie sagen, auch auf die Erfahrung zu verweisen, ist einsichtig -, aber jenseits dessen, ganz konkret, haben sie keine Möglichkeiten, die Angriffe auf den Libanon zu stoppen?

Erler: Nein. Es gibt sicherlich im Augenblick da keine Möglichkeiten, das zu erzwingen. Aber man kann im Grunde genommen - eben das versucht ja auch die Bundesregierung - in Einzelgesprächen für einen solchen Stopp der Waffen jetzt, des Einsatzes der Waffen werben, und man kann eben deutlich machen, dass die internationale Gemeinschaft jetzt bereit ist, hier eine Lösung zu suchen, die wirklich dauerhaft hier eine Befriedung dieser gefährlichen Grenze erreicht. Und das müsste eigentlich auch im Interesse von Israel sein.

Simon: Auf der anderen Seite stehen Syrien und der Iran, die die Hisbollah unterstützen. Und derzeit - die Atomkrise mit dem Iran schwelt ja noch; Syrien ist auch ein sehr schwieriger Fall seit Jahren - hat das, was USA und EU sagen, da ja kaum Gewicht. Was können sie substanziell tun?

Erler: Natürlich hat jetzt Iran die Möglichkeit, ein bisschen von der politischen Bildfläche zu verschwinden durch die große Aufmerksamkeit, die natürlich diese Kriegshandlungen im Nahen Osten erzwingen und damit automatisch ein bisschen das Thema der iranischen Nuklearpolitik von der ersten Stelle verdrängen. Aber ich glaube, das wird nur eine vorübergehende Gewichtsverlagerung sein, weil - wie Sie ja selber sagen - der Iran und auch Syrien hier unmittelbare player, unmittelbare Beteiligte auch an diesem Konflikt sind und sich auch in besorgniserregender Weise vor allem iranische Politiker in den letzten Stunden zu dieser Auseinandersetzung geäußert haben. Aber ich glaube, dass im Moment man im Iran eher hofft, dass der Nahost-Konflikt ein bisschen ablenkt von dem iranischen Nuklearkonflikt.

Simon: Das heißt aber auch - was ich so raushöre -, auch da hat Europa, haben die USA so gut wie keine Mittel? Wenn, höchstens noch die Russen?

Erler: Es ist ganz wichtig und entscheidend und insofern kann eigentlich die Tatsache, dass es auf dem St. Petersburger Gipfel doch in letzter Minute noch in Sachen Nahost zu einer Einigung gekommen ist, helfen. Es gibt keine andere Möglichkeit als mit Russland, aber eben bei der iranischen Nuklearfrage auch mit China zusammenzubleiben in der Position. Das ist das Einzige, was die Führung in Teheran überhaupt beeindrucken kann.

Simon: Wenn die Soldaten frei kommen sollten, auch dafür setzt sich ja nun der russische Präsident ein über Kanäle, sehen Sie da dann irgendeine Garantie, dass diese Krise, dieser Krieg aufhört?

Erler: Nein, eine Garantie sicherlich nicht. Aber ich glaube, dass das schon ein entscheidender Punkt ist, weil Israel kann sich in der Lage, in der es ist, wo es jetzt mit 40 Kilometer weit reichenden Raketenangriffen konfrontiert ist, wo 450 Raketen in den letzten Stunden auf Israel geflogen sind, natürlich kein Zeichen der Schwäche leisten. Ich glaube, das kann jeder nachvollziehen - auch wenn man natürlich die Art und Weise, wie die Reaktion ist, hier - und das wird ja auch öffentlich getan - in Frage stellen kann. Aber insofern ist die Freilassung der Soldaten von großer symbolischer Bedeutung, nicht nur für die Familien der Soldaten und sie selbst, sondern für Israel von symbolischer Bedeutung, weil das eine demonstrierte Schwäche ist, genauso wie die Nicht-Abwehrbarkeit dieser doch schon mittlere Distanzen fliegenden Raketen. Und aus dieser Situation muss die Weltgemeinschaft versuchen, Israel herauszubringen.

Simon: Herr Erler, diese Krise ist jetzt eskaliert mit den erneuten Entführungen zweier israelischer Soldaten und der Ermordung von acht weiteren Soldaten, aber sie war ja schon vorher da: im Gazastreifen. Rächt sich jetzt auch ein bisschen für die Europäer und auch für die USA, dass sie während der ersten Phase dieser Krise sich so weit zurückgehalten hat?

Erler: Die Frage ist ja, ob es eine Alternative, die erfolgreicher gewesen wäre, dazu gibt. Also ich habe sehr viele Äußerungen, besorgte Äußerungen von westlichen Politikern, auch Appelle an Israel, was die Reaktionen im Gazastreifen angeht, gehört. Aber eben da ist der gleiche Fall: Auch da handelte es sich um in diesem Fall einen entführten Soldaten, der sozusagen eine Verwundbarkeit Israels symbolisierte. Und auch hier hat es eben diese sehr massive Reaktion gegeben. Im Grunde genommen sind das zwei völlig parallele Vorgänge im Gazastreifen und im südlichen Libanon. Aber es ist völlig klar: Israel kann die eigene Sicherheit ganz offensichtlich alleine mit militärischen Mitteln nicht aufrechterhalten. Bei einer Reichweite von Raketen von 40 Kilometern und mehr kann man sich eigentlich nur schwer vorstellen, dass es durch eine selbstkontrollierte Sicherheitszone zu neuer Sicherheit kommen kann. Es gibt keine andere als die Lösung über einen Verhandlungsprozess im Nahost-Friedensprozess. Und das ist eigentlich auch eine Botschaft, die die schrecklichen Bilder dieser Tage uns übermitteln.

Simon: Das heißt also, Sie können sich vorstellen, dass, wenn jemals diese Krise jetzt beigelegt ist, dass man dann vielleicht anders anfängt zu verhandeln über die Probleme in Nahost?

Erler: Es schwingt damit jetzt ein bisschen Hoffnung, was ich sage, aber manchmal ist es ja so, dass erst eine Katastrophe, eine Tragödie passieren muss, bis wieder Vernunft einkehrt. Und ich glaube, wer genau analysiert, was im Augenblick passiert, diese neue Verwundbarkeit, die hier sichtbar wird, der kann eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass wir eine umfassende Lösung im Rahmen des Nahost-Friedensprozesses brauchen. Und die kann nicht mit Waffengewalt erreicht werden.

Simon: Das war der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler (SPD). Herr Erler, Danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

Erler: Auf Wiederhören.