Entwicklung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina (Operation Althea)

9. Sitzung des Deutschen Bundestages, 16. Dezember 2005: 

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zehn Jahren beendete das Friedensabkommen von Dayton den blutigsten und verlustreichsten der vier Balkankriege der 90er-Jahre. In der Tat: Am 21. November dieses Jahres, genau am zehnten Jahrestag der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens, hat die EU die Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Bosnien-Herzegowina aufgenommen und damit, was den Prozess der Integration dieses Landes in Europa betrifft, ein neues Kapitel aufgeschlagen. Zwischen der Tragödie des Krieges, der von 1992 bis 1995 andauerte, und heute liegen zehn Jahre intensivsten Engagements der internationalen Gemeinschaft: für einen Friedensprozess und ein Nation Building, das es in diesem Umfang bisher noch nicht gegeben hat. Dieser Prozess erforderte den Einsatz von vielen Soldaten, Polizisten, Helfern, Experten und auch von sehr viel Geld. Dieser Einsatz hat sich gelohnt. Ich habe erfreut zur Kenntnis genommen, dass der regionalkundige Kollege Dr. Stinner das genauso sieht.

Für die Menschen in Bosnien-Herzegowina ist der Krieg heute eine schlimme Erinnerung. Das Land selbst ist weitgehend stabil. Zieht man eine politische Zwischenbilanz, wird man auf Licht und Schatten stoßen;aber allmählich überwiegt das Licht. Die Mehrheit der Flüchtlinge ist zurückgekehrt und das, was im Krieg an Gut, Boden und Häusern requiriert worden war, wurde zurückgegeben. Leider hat sich die Mehrheit der Binnenflüchtlinge nicht dazu entschließen können, in die ehemaligen Siedlungsorte zurückzukehren. Aber bei der Demokratisierung gibt es erhebliche Fortschritte. Heute sind freie und faire Wahlen in Bosnien-Herzegowina an der Tagesordnung. Der Gesamtstaat mit seinen beiden unterschiedlichen Entitäten - auf der einen Seite die Serbische Republik, auf der anderen Seite die Bosnisch-Kroatische Föderation - wächst Schritt für Schritt zusammen. Eingeleitet ist zum Beispiel die Bildung einer gesamtstaatlichen Armee mit einem gemeinsamen Verteidigungsministerium.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vor zwei Tagen, am 14. Dezember 2005, hat der Dayton-Implementierungsrat beschlossen, unseren früheren Kollegen und ehemaligen Bundesminister Dr. Christian Schwarz-Schilling, der als Mediator und Streitschlichter viel Erfahrung in exakt diesem Land hat, zu seinem Nachfolger zu ernennen. Dazu gratulieren wir ihm herzlich. Diese Ernennung drückt die Anerkennung seiner Arbeit aus, aber auch ein wenig die Anerkennung und den Respekt für das, was Deutschland in diesem Friedens- und Stabilisierungsprozess geleistet hat. Althea ist in diesem Kontext tatsächlich ein sehr wichtiger Teil, aber nicht der einzige. Deutschland hat im Rahmen von Projekten zur Flüchtlingsrückkehr, zur Demokratisierung, zur Medienhilfe und zur Wirtschaftsförderung mehr als 100 Millionen Euro beigesteuert. Darüber hinaus stellt Deutschland das größte Truppenkontingent, nämlich annähernd 1 000 der bei Althea eingesetzten 6 200 Soldaten. Nirgendwo kann man die ESVP, die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, besser als in Bosnien-Herzegowina in der Praxis beobachten, und zwar sowohl ihren zivilen als auch ihren militärischen Teil. Auf den EU-Gipfeln in Köln und Helsinki im Jahre 1999, also unmittelbar nach dem Kosovokrieg, wurde die Bildung europäischer Fähigkeiten beschlossen, die jetzt und auch in Zukunft in Bosnien zum Einsatz kommen.

Mit der EUPM, der europäischen Polizeimission, hat es 2003 begonnen. Noch heute versuchen 170 Polizeiberater, eine eigene, wirksame Polizei in Bosnien-Herzegowina auszubilden. Mit Althea ist es weitergegangen, diesem in der Tat umfangreichsten europäischen Beitrag zur Friedenskonsolidierung. Wie Bundesminister Jung schon gesagt hat: Hier ist der Übergang von der NATO zur EU und auch die Zusammenarbeit gut verlaufen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der weitere Weg Bosnien-Herzegowinas ist vorgezeichnet. Wir wollen, dass das Land mehr und mehr Eigenverantwortung übernimmt. Dabei werden die für Oktober nächsten Jahres vorgesehenen Wahlen eine wichtige Rolle spielen, sie werden einen Meilenstein darstellen. Herr Kollege Dr. Stinner, wenn der demokratische Transformations- und Stabilisierungsprozess in Bosnien-Herzegowina bis Ende 2006 ausreichende Fortschritte gemacht haben wird, dann soll die Eigenverantwortung deutlich ausgeweitet werden,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

auch dadurch, dass dann der Hohe Repräsentant einem Sonderbeauftragten der EU - den werden wir weiter brauchen - weichen kann, der aber, so viel ist klar, verringerte Einwirkungsrechte auf die bosnische Politik haben wird; ich glaube, in diesem Punkt liegen wir nicht weit auseinander. Entscheidend für eine gute Zukunft des Landes wird aber auch sein, dass die EU bei ihrer Westbalkanpolitik bleibt, wie sie auf dem Europäischen Rat von Thessaloniki formuliert und beschlossen worden ist: die EU Perspektive für Bosnien-Herzegowina und die Westbalkanregion muss eindeutig bestehen bleiben. Gerade ist, wie gesagt, mit der Aufnahme von Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen ein neues Kapitel eröffnet worden. Ich will an dieser Stelle noch einmal festhalten: Die neue Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 eindeutig zur Aufrechterhaltung der europäischen Perspektive für die Westbalkanstaaten - auch aus friedenspolitischen Gründen - entschlossen. Wir werden bei diesem Prozess ein guter Partner sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)