Balkandebatte

37. Sitzung des Deutschen Bundestages, 1. Juni 2006: 

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat am 24. Februar dieses Jahres ihren Bericht über die Ergebnisse ihrer Bemühungen um die Weiterentwicklung der politischen und ökonomischen Gesamtstrategie für die Balkanstaaten und ganz Südosteuropa für das Jahr 2005 vorgelegt. Dieser Bericht stellt fest, dass es sieben Jahre nach dem Ende des letzten der vier blutigen Balkankriege der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts, des Kosovokrieges, in dieser Region signifikante Fortschritte bei der politischen Stabilität, bei der gesellschaftlichen Transformation in Richtung Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und bei der weiteren wirtschaftlichen Konsolidierung gibt.

Diese Entwicklungen sind nicht zuletzt einer zentralen politischen Entscheidung zu verdanken, nämlich dem Angebot an die Länder des westlichen Balkans, sich in die euroatlantischen Strukturen zu integrieren. Heute befinden sich die Staaten alle auf diesem Weg, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. EU- und NATO-Mitgliedschaft sind für sie nicht nur eine ermutigende Perspektive, sondern auch ein Ansporn, auf dem genannten Weg fortzuschreiten.

Diese Perspektive stellt auch den unverzichtbaren Rahmen für die Lösung nach wie vor ungelöster Probleme und Konflikte der Westbalkanregion dar. Die den Ländern des westlichen Balkans 2003 in Thessaloniki zugesagte europäische Perspektive hat daher für die Bundesregierung nach wie vor Bestand.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP])

Deutschland und die EU werden den Prozess der Integration sämtlicher Länder der Region weiterhin unterstützen. Gerade weil es zunehmend nötig wird, die Aufrechterhaltung der Beitrittsperspektive öffentlich zu erklären und offensiv gegen Zweifel zu vertreten, muss weiter gelten: Entscheidendes Kriterium für die Beitrittschance jedes einzelnen Landes muss die Erfüllung der Kriterien des Acquis communautaire bleiben. Die von der Kommission im November 2005 hierzu verabschiedete Roadmap ist ein gutes Instrument für diese konditionierte Heranführung.

Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der grenzüberschreitenden regionalen Zusammenarbeit zu. In deren Zentrum steht nach wie vor der Stabilitätspakt für Südosteuropa, der vor sieben Jahren unter deutscher EU-Präsidentschaft initiiert wurde. Unter seinem Dach hat sich ein dichtes Netzwerk von regionalen Abkommen entwickelt, deren engagiertestes die geplante Schaffung einer regionalen Freihandelszone in Südosteuropa ist. Aber auch der unerlässliche Kampf gegen organisierte Kriminalität und Korruption kann nur über eine verstärkte regionale Zusammenarbeit erfolgreich sein.

Es gibt also Fortschritte, aber nach wie vor auch ernsthafte Herausforderungen. An erster Stelle muss dabei die Statusfrage für das Kosovo genannt werden. Eine Nichtklärung des Kosovostatus birgt sowohl im Hinblick auf die Sicherheit als auch bei der wirtschaftlichen Entwicklung große Risiken. Deswegen hat sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Oktober letzten Jahres für die Einleitung des Statusprozesses ausgesprochen, der dann im November unter Leitung des ehemaligen finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari formell begonnen wurde. Bei ihrem Treffen mit Martti Ahtisaari Ende Januar in London haben sich die Außenminister der Kontaktgruppe für eine Statuslösung noch in diesem Jahr ausgesprochen.

Grundlage des Statusprozesses bleiben die vom Sicherheitsrat gebilligten Leitlinien der Kontaktgruppe, vor allem die bekannten drei Neins: keine Rückkehr zu den Bedingungen von vor 1999, keine Vereinigung des Kosovo mit einem Drittstaat oder Teilen davon und keine Teilung des Kosovo. Daneben sollte jegliche Statuslösung die folgenden Kriterien erfüllen: den Willen der Bevölkerung respektieren, dem Schutzbedürfnis der Minderheit vollständig Rechnung tragen und die Stabilität in der gesamten Region erhöhen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir machen uns keine Illusionen: Auch nach der Beantwortung der Statusfrage wird die internationale zivile und militärische Präsenz noch für einen beträchtlichen Zeitraum erforderlich sein, das heißt: KFOR bleibt unerlässlich. Darüber wird der Bundestag direkt im Anschluss hieran eine Beschlussfassung treffen.

Lassen Sie mich wegen der Bedeutung der Kosovofrage für den Erfolg der Stabilisierung der Region Südosteuropa noch einige Worte zum Verlauf sagen: Seit Februar finden in Wien unter der Leitung von Martti Ahtisaari Direktverhandlungen zwischen Belgrad und Pristina statt. Auch nach nunmehr insgesamt sechs Verhandlungen liegen die Positionen der Parteien leider immer noch weit auseinander. Da sind die Kosovo-Albaner, die für eine rasche und unkonditionierte Unabhängigkeit eintreten, dort ist Belgrad, das für einen Status plädiert, bei dem - Zitat - mehr als Autonomie, aber weniger als Unabhängigkeit vorgesehen ist, und nicht zuletzt sind dort die Kosovo-Serben, die mit Recht auf Garantien für ihre Zukunft dringen. Es ist völlig klar: Eine Lösung der Statusfrage kann ohne eine Beachtung der Rechte auf Sicherheit, auf Bewegungsfreiheit, auf Flüchtlingsrückkehr und auf Schutz gefährdeter religiöser Stätten nicht funktionieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dazu hat Außenminister Steinmeier auch entsprechende Gespräche mit dem neuen kosovarischen Premierminister Ceku geführt. Wir sind im Übrigen auch der Meinung, dass es nicht hilfreich war, dass die serbische Führung die kosovarischen Serben aufgefordert und einen entsprechenden Druck ausgeübt hat, sich aus den Institutionen vor Ort zurückzuziehen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Auch darüber hat der deutsche Außenminister mit Premierminister Koštunica gesprochen, wobei er unsere Position sehr deutlich gemacht hat.

Die Bundesregierung begrüßt, dass das Referendum in Montenegro am 21. Mai dieses Jahres friedlich und ohne Zwischenfälle verlaufen ist. Sie begrüßt auch, dass das inzwischen amtlich bestätigte Ergebnis von 55,5 Prozent Zustimmung bei einer Wahlbeteiligung von mehr als 85 Prozent Klarheit geschaffen hat. Die OSZE hat bescheinigt, dass hierbei alle internationalen Standards eingehalten worden sind.

Entscheidend ist jetzt, dass dieses Ergebnis definitiv von allen Seiten akzeptiert wird. Wir begrüßen, dass hierzu konstruktive Reaktionen aus Belgrad zu verzeichnen waren. Die EU hat in ihren Verlautbarungen bereits deutlich gemacht, dass sie diesem Ergebnis Rechnung tragen wird. Wir unterstützen diese Position. Belgrad und Podgorica sollten nunmehr unverzüglich in einen Dialog über die Ausgestaltung ihres künftigen Verhältnisses treten und dabei ihre Beziehung auf eine gutnachbarschaftliche Basis stellen.

Im Rückblick auf die vergangenen zwölf Monate kann man feststellen, dass sich das Stufenmodell bei den Integrationsprozessen dynamisch entwickelt. Slowenien ist schon seit zwei Jahren Mitglied der EU und schickt sich an, 2007 der Eurozone beizutreten. Wir sehen dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien zum 1. Januar 2007 entgegen. Mit Kroatien wurden im Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Albanien schaut voller Zuversicht auf die nächste Sitzung des Europäischen Rates, damit das SAA-Abkommen unterzeichnet werden kann. Mit Bosnien und Herzegowina sind Verhandlungen über ein solches Abkommen bereits letztes Jahr aufgenommen worden und können wahrscheinlich im ersten Halbjahr 2007 abgeschlossen werden.

Mit Serbien und Montenegro laufen ebenfalls Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, nachdem Mazedonien schon den Status eines Kandidaten erreicht hat. Allerdings sind die Verhandlungen mit Serbien und Montenegro im Augenblick wegen der fehlenden Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Sachen Jugoslawien unterbrochen. Wir müssen darauf bestehen, dass die mutmaßlichen Täter von Srebrenica einschließlich General Mladic zur Verantwortung gezogen werden. Daran führt kein Weg vorbei.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Um den Überblick über das Stufenmodell abzuschließen: Moldova ist inzwischen ein aktiver Partner der EU-Nachbarschaftspolitik geworden. So weit zum aktuellen Sachstand bei der aktiven Umsetzung unserer Südosteuropa-Gesamtstrategie.

Ich möchte abschließend Folgendes betonen: Wir sind davon überzeugt, dass die gemachten Zusagen des Europäischen Rates - von der Sitzung in Thessaloniki im Juni 2003 bis zur Salzburger Erklärung der EU-Außenminister am 12. März 2006 - zur europäischen Perspektive weiterhin den verlässlichen politischen Rahmen für die Länder Südosteuropas und des Westbalkans darstellen müssen. Wir sind auch davon überzeugt, dass die Lösung der nach wie vor vorhandenen Konflikte und Probleme in dieser Region ohne eine solche verlässliche europäische Perspektive nicht möglich ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Wir sind ebenso davon überzeugt, dass trotz aller Schwierigkeiten beim europäischen Verfassungsprozess die friedenspolitische und stabilitätswirksame Erfolgsgeschichte der Integrationspolitik nicht infrage gestellt werden darf.

Nur wenn die EU auf diesem Weg weiter vorangeht, werde ich im nächsten Jahr in der Lage sein, Ihnen erneut einen Bericht mit positiven Ergebnissen über die Umsetzung der Gesamtstrategie vorzulegen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.