Wie der Westen mit Russland umgehen soll

Gastkommentar in der NZZ, 15. Juli 2017

Viele sagen, Minsk sei gescheitert. Aber wofür sollte man diesen detaillierten Friedensplan denn aufgeben? Sicher nicht für Neuverhandlungen, die auf ein Minsk-Minus hinauslaufen würden.

Zu der Frage, wie der Westen mit Russland umgehen soll, gibt es unterschiedliche Ratschläge. Die einen sagen: «Moskau versteht nur eine Sprache, die der entschlossenen Härte», andere wenden ein: «Russland wird als Partner bei Konflikten und globalen Problemen gebraucht - das sollte sich in unserem Verhalten widerspiegeln.» In letzter Zeit hört man, vor allem von sogenannten «Russland-Verstehern», auch die Forderung, «alles auf null zu stellen» und einen radikalen Neuanfang zu wagen. Soll heissen, vergessen wir Krim und Ostukraine, und kehren wir zum «business as usual» zurück. Es überrascht nicht, dass eine Mehrheit der russischen Gesprächspartner diese Forderung unterstützt. Aber auch im Westen finden solche Positionen Beifall.

Es geht aber nicht um Beifall, sondern um die Tatsache, dass mitten in Europa ein Krieg geführt wird, der schon über zehntausend Todesopfer gefordert hat. Die russische Annexion der Krim und Moskaus Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine verstossen beide gegen tragende Prinzipien der europäischen Friedensordnung, also gegen das Regelwerk der Schlussakte von Helsinki von 1975 und gegen die Charta von Paris für ein neues Europa von 1990. Russland ist an dieses Regelwerk gebunden, das etwa zur Beachtung der Staatensouveränität, der Unantastbarkeit von Grenzen und des Gewaltverzichts verpflichtet.

Europa hat vernünftig und verhältnismässig auf diese Regelverletzungen reagiert. Es hat jede militärische Lösung dieses Konflikts kategorisch ausgeschlossen und grosse Anstrengungen im Sinne einer politisch-diplomatischen Konfliktlösung unternommen. Im Ergebnis haben wir einen detaillierten Friedensfahrplan mit 13 Punkten (das Minsk-II-Agreement vom Februar 2015), den beide Konfliktparteien akzeptiert haben. Deutschland und Frankreich vermitteln in dem sogenannten «Normandieprozess» zwischen Russland und der Ukraine, während im Rahmen der «trilateralen Kontaktgruppe» der OSZE in Minsk in vier Arbeitsgruppen, an denen auch die ostukrainischen Separatisten beteiligt sind, ständig nach neuen konkreten deeskalierenden Massnahmen gesucht wird.
Wir brauchen den Dialog, der sich auch auf die Entstehung der tiefen Entfremdung erstrecken muss, die sich zwischen Russland und dem Westen in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat.

Punkt eins des Minsk-Abkommens sieht einen sofortigen und vollständigen Waffenstillstand vor. Aber trotz fortwährenden Neustarts zur Umsetzung dieser Vereinbarung werden die Kampfhandlungen fortgesetzt. Selbstverständlich könnte der russische Präsident die Separatisten, die von russischer Unterstützung abhängig sind, zur Einstellung der Schusswechsel zwingen. Und selbstverständlich könnte der ukrainische Präsident dasselbe bei seinen Kämpfern vor Ort durchsetzen. Aber es passiert nicht. Ganz offensichtlich fehlt auf beiden Seiten der politische Wille, das, was man vereinbart hat, auch tatsächlich umzusetzen. Das einzige politische Druckmittel, das der Westen gegenüber Moskau dabei zur Verfügung hat, nämlich die Wirtschaftssanktionen, entfaltet keinerlei Wirkung.

Viele sagen, Minsk sei gescheitert. Aber wofür sollte man diesen detaillierten Friedensplan aufgeben - für Neuverhandlungen, die auf ein Minsk-Minus hinauslaufen würden? Dafür will im Moment keiner die Verantwortung übernehmen. Aber die Uhr tickt. Es kann nicht ewig so weitergehen, dass sich Putin und Poroschenko fast wöchentlich zu Minsk bekennen, aber nicht für eine Durchsetzung des Waffenstillstands sorgen. Das wird immer mehr zu einem unwürdigen Spiel, unter dem alle betroffenen wechselseitigen Beziehungen leiden.

An dem Ziel einer politischen Konfliktlösung kann es keine Abstriche geben. An einer Isolierung Russlands kann aber niemand interessiert sein - sie würde die Moskauer Verweigerungsposition nur verstärken.
Wir brauchen den Dialog, der sich auch auf die Entstehung der tiefen Entfremdung erstrecken muss, die sich zwischen Russland und dem Westen in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat. Und dieser Dialog muss nach Wegen fahnden, wie wir doch noch das tägliche Blutvergiessen in der Ostukraine beenden können. Und er sollte zu konkreten Schritten der Deeskalation auch in unserem immer gefährlicher werdenden Alltag führen: Das fängt mit der Rückkehr zu einer umfassenden, auch militärischen Zusammenarbeit im Nato-Russland-Rat an und könnte fortgesetzt werden mit einem Stopp weiterer Truppenstationierungen an den Grenzen, einer Reduzierung der ständig wachsenden Zahl von Militärmanövern auf beiden Seiten, einer Vereinbarung zur Vermeidung militärischer Überflüge ohne Ankündigung und Transponder bis hin zu neuen Verabredungen über Abrüstungsschritte im Rahmen der OSZE. Das wären konkrete Schritte zu einer dringend erforderlichen Trendwende in den prekär gewordenen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen.