Grußwort zur Gedenkveranstaltung 40 Jahre Moskauer Helsinki-Gruppe Moskau, 19.04.16

  

Sehr geehrter Botschafter von Fritsch, sehr geehrter [Sven-Olov] Carlsson [stv. EU-HoM], lieber Michail Alexandrowitsch [Fedotow] und vor allem liebe Ljudmila [Michailowna] Alexejewa, lieber Natan Scharanski, liebe Mitglieder der Moskauer Helsinkigruppe,meine sehr geehrten Damen und Herren,

 „Бумага всё стерпит“ sagt man im Russischen, „Papier ist geduldig“ im Deutschen.

Man kann viel aufschreiben. Aber nur wenige internationale Verträge oder Erklärungen haben wohl tatsächlich Einfluss auf den Gang der Geschichte gehabt.

Als im August 1975 die erste Runde der KSZE-Verhandlungen endete, hätten nur wenige die Schlussakte von Helsinki für ein solches historisches Dokument gehalten.

In der „New York Times“ war damals sogar zu lesen:

„Noch nie haben so viele Menschen so lange Zeit um so wenig gerungen wie um die einhundert Seiten lange Erklärung guter Absichten in den Ost-West-Beziehungen.“

 Diese einhundert Seiten wären wohl wirklich nur geduldiges Papier voller guter Absichten geblieben, wenn nicht mutige Menschen in der damaligen Sowjetunion und in vielen anderen Ländern im Osten Europas an die Vision von Helsinki geglaubt hätten.

Ljudmila Alexejewa hat einmal eindrucksvoll beschrieben, wie erstaunt viele Menschen in der Sowjetunion waren, als sie im Sommer 1975 in den Zeitungen die Bestimmungen der Schlussakte lasen. Zum ersten Mal wurde vielen bewusst, dass ihre Regierung sich in einem internationalen Dokument zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichtet hatte. Und das war eine Riesenchance: Man konnte ab sofort jedes Regierungshandeln an diesen Verpflichtungen messen, ja ihre Erfüllung auch öffentlich wirksam einfordern!

 Nur wenige Monate später gründeten dann Ljudmila Michailowna, Natan Scharanski und neun weitere sowjetische Bürgerinnen und Bürger in der Wohnung von Andrej Sacharow die Moskauer Helsinki-Gruppe, um ihre Regierung von nun an auch an diese Verpflichtungen zu erinnern.

Darauf kam es zu weiteren Gründungen – in Polen, der Tschechoslowakei, der Ukraine, in Georgien, Litauen, Armenien, aber auch der Schweiz, den Niederlanden und vielen anderen Ländern.

Die Helsinki-Gruppen waren von Anfang an eine internationale Bewegung in Ost und West, eine Bewegung über politische Grenzen hinweg.

 Die Helsinki-Gruppen haben Ost und West nach Jahrzehnten der Trennung auf eine neue Weise miteinander verbunden: durch das Bewusstsein, dass ein Angriff auf die Rechte und Freiheiten von Menschen auch über tausende Kilometer, unterschiedliche Zeitzonen und politische Systeme hinweg immer auch ein Angriff auf meine Rechte und Freiheiten ist.   

 Diesen Geist haben auch die KSZE-Staaten nach der Überwindung der Teilung Europas

im sogenannten Moskauer Dokument von 1991 mit der Feststellung bekräftigt, dass “die im Bereich der menschlichen Dimension der KSZE übernommenen Verpflichtungen direkte und legitime Angelegenheiten aller Teilnahmestaaten sind und nicht ausschließlich zu den inneren Angelegenheiten eines betroffenen Staates gezählt werden können.“

 Diese Feststellung wurde 2010 beim letzten OSZE-Gipfel in Astana ausdrücklich wiederholt.

1975 haben 35 Länder die Schlussakte von Helsinki unterschrieben. Heute umfasst die OSZE 57 Staaten in Nordamerika, Europa und Zentralasien. Und in der gesamten OSZE-Region sind zivilgesellschaftliche Gruppen aktiv, die sich auf die Helsinki-Bewegung zurückführen oder mit dieser eng verbunden sind.

 Das Erbe der Moskauer Helsinki Gruppe ist heute nach wie vor lebendig und notwendig. Meinungs- und Medienfreiheit, demokratische Mitbestimmung oder die Rechte von Minderheiten – die Garantien der Schlussakte von Helsinki in der menschlichen Dimension sind heute immer noch nicht vollständig in allen OSZE-Staaten umgesetzt.

In manchen Ländern werden diese Rechte sogar wieder eingeschränkt und neue Herausforderungen durch Terrorismus, Migrationsbewegungen oder grenzüberschreitende Kriminalität als Rechtfertigungen dafür angeführt.

 Dabei hat bereits die Moskauer Helsinki-Gruppe in ihrem Gründungsdokument vor 40 Jahre festgehalten, dass “humanitäre Fragen und Informationsfreiheit direkte Relevanz für das Problem der internationalen Sicherheit” besitzen. Sicherheit und Stabilität auf der einen und Menschenrechte und Grundfreiheiten auf der anderen Seite sind keine Gegensätze. Fortschritte auf der einen Seite müssen nicht mit Rückschritten auf der anderen erkauft werden.

 Dies ist auch unsere feste Überzeugung als Vorsitz der OSZE in diesem 40. Jubiläumsjahr der Moskauer Helsinki-Gruppe. Und daher haben wir etwa die Medien- und Meinungsfreiheit, Toleranz- und Nicht-Diskriminierung und die Rechte von Minderheiten zu Schwerpunkten unserer Aktivitäten in der menschlichen Dimension gemacht.

Und wir freuen uns sehr, dass wir im Rahmen unseres Vorsitzes auch eine Veranstaltung des EU-Russia Civil Society Forums Ende Mai in Berlin unterstützen dürfen, die sich der Geschichte und Relevanz der auf die Moskauer Helsinki-Gruppe zurückgehenden Menschenrechtsbewegung in Europa widmet.

Und besonders freuen wir uns, dass wir dazu Sie – liebe Ljudmila Michailowna – in Berlin begrüßen dürfen.

 Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte ganz herzlich Herrn Botschafter von Fritsch, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der deutschen Botschaft und den Mitgliedern der Moskauer Helsinki-Gruppe dafür danken, dass Sie diese Veranstaltung heute Abend ermöglicht haben.

 Wir erinnern uns heute, dass Papier nicht geduldig sein muss, sondern auch Visionen enthalten kann, Visionen, die Grenzen überwinden und Konflikte beenden können.

Dafür aber braucht es Menschen, die diese Visionen – wenn nötig gegen Widerstände –  mit Leben erfüllen und für diese einstehen, Menschen, wie die Mitglieder der Helsinki-Gruppen, in Moskau und überall sonst, deren Geburtsstunde wir heute feiern und denen wir alle herzlich gratulieren für ihre ‎Standhaftigkeit, für ihren Mut und für ihre Treue zu den Werten und Prinzipien des Helsinki-Prozesses.

 Vielen Dank!