Deeskalation: dringend gesucht!

In gekürzter Version erschienen bei ZEIT online, 8. Juli 2016

Der NATO-Gipfel in Warschau wird nach seinem Vorgänger in Wales von 2014 der zweite in Folge sein, der sich vor allem mit einer gewachsenen Bedrohung durch Russland beschäftigen wird. Das überrascht nicht, denn wir erleben zurzeit als Folge des Ukrainekonflikts die tiefste Krise zwischen Russland und dem Westen seit dem Ende des Kalten Krieges. Warschau wird deutlich machen, dass die militärischen Aspekte dieser Krise immer mehr in den Vordergrund drängen.

Unübersehbar hat Moskau ausreichend Stoff für die westliche Bedrohungswahrnehmung geliefert. Entscheidend dabei: die Art und Weise, wie im März 2014 in wenigen Tagen die Annexion der Krim durchgeführt wurde und danach die Destabilisierung der Ukraine durch die Unterstützung der Separatisten in Donezk und Lugansk. Schon länger beobachtet der Westen erhebliche russische Investitionen in die Modernisierung der Streitkräfte. Umfang und Anzahl russischer Militärmanöver haben zugenommen, häufig als Alarmübungen deklariert, um Informations- und Transparenzverpflichtungen zu umgehen. Dabei werden schnelle Verlegungsfähigkeiten von bis zu 40.000 Soldaten an die Grenzen demonstrativ vorgeführt. Das alles verursacht nachvollziehbare Bedrohungsängste, besonders bei den unmittelbaren westlichen Nachbarn im Baltikum und in Polen. Die NATO sieht sich genötigt, darauf Antworten zu geben und wird es in Warschau erneut tun.

Der Gipfel in Polen wird feststellen, dass die im Rahmen des 2014 in Wales auf den Weg gebrachten Readiness Action Plan vorgesehene „Schnelle Eingreiftruppe“, die bis zu 5000 Mann in kürzester Zeit verlegen kann, ebenso einsatzfähig ist wie die in den östlichen NATO-Staaten aufgebauten Aufnahmestäbe (je etwa 40 Soldaten) sowie das Multinationale Korps - Hauptquartier Nordost in Stettin als Führungseinheit. Neu beschlossen werden soll die Stationierung von je einem Bataillon Kampftruppen (800-1000 Mann) in den drei baltischen Staaten und in Polen auf einer Rotationsbasis. Aus NATO-Sicht ist diese „Vornepräsenz“ so ausgestaltet, dass sie nicht mit den Restriktionen aus der NATO-Russland-Grundakte von 1997 kollidiert. In Moskau wird man auch aufmerksam registrieren, dass in Warschau in einer ersten Stufe (Erstbefähigung) die NATO-Raketenabwehr für einsatzfähig erklärt werden soll.

Längst Praxis des westlichen Bündnisses ist es, die ausgeweiteten russischen Militärmanöver mit einer eigenen gesteigerten Übungstätigkeit zu beantworten.

Ein Beispiel dafür gibt die NATO-Manöver-Serie „Saber Strike“, die seit 2011 alljährlich auf dem Gebiet der östlichen Mitgliedsstaaten durchgeführt wird. 2012 – also noch vor dem Ukrainekonflikt – wurden dabei 2000 Soldaten aus 8 Mitgliedsstaaten eingesetzt, 2014 waren es 4700 aus 10 Ländern, 2015 bereits 6000 aus 13 Ländern und 2016 dann 10.000 Soldaten erneut aus 13 Staaten. Also eine Verfünffachung des Manöver-Umfangs innerhalb weniger Jahre, was natürlich von der russischen Führung registriert und kritisiert wird, die aber selber 2015 zum Beispiel eine Großübung mit ca. 95.000 Soldaten im westlichen Grenzraum durchgeführt hat. Wenn man dazu nimmt, dass fast täglich russische Militärflieger ohne Ankündigung und Transponder die östlichen Meere bis an die NATO-Grenzen überfliegen, mit der Folge, dass Abfangjäger des Bündnisses aufsteigen müssen, um sie zu orten und zu begleiten, und dass dabei schon zahlreiche Beinahezusammenstöße oder andere Gefährdungssituationen entstanden sind, dann wird man nicht mehr in Abrede stellen können, dass wir uns in einem gefährlichen militärischen Eskalationsprozess befinden, der immer schwerer kalkulierbar und kontrollierbar wird. Es ist gut, dass nicht zuletzt auf deutsches Einwirken hin der Warschauer Gipfel eine doppelte Botschaft überbringen soll: deterrence and detente, also eine eindeutige Verteidigungsbereitschaft bis hin zur Abschreckung, was die russische Bedrohung angeht, aber auch Dialogbereitschaft. Im Moment befinden wir uns aber in der Falle, dass beide Seiten ihre eigenen Maßnahmen immer als Antwort auf ein provokatives Vorgehen der anderen Seite legitimieren. „Was wir im Osten tun, ist eine Antwort auf das russische Verhalten“, sagt NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Und fügt hinzu: „Jede russische Gegenmaßnahme wäre ungerecht-fertigt“. Das Problem ist nur, solche ungerechtfertigten Gegenmaßnahmen werden von der anderen Seite angekündigt und beschlossen – natürlich nur als Antwort auf das Vorgehen des Anderen. Moskau will die Bataillons-Dislozierung in den östlichen NATO-Staaten mit der Verlegung von drei Divisionen (ca. 30.000 Mann) in die Grenzregionen beantworten. Bestimmt eine komplett „asymmetrische“, rational nicht nachvollziehbare Reaktion. Aber eine, die dann nach neuen „Antworten“ auf der anderen Seite schreit. So sieht eine reflexartige und unkontrollierte Eskalationsspirale aus, bei der die Auskunft „wir reagieren ja nur“ wenig weiter hilft.

Es gibt Hoffnung. Unmittelbar nach dem Warschauer Gipfel wird zum zweiten Mal nach einer zweijährigen Pause am 13. Juli der NATO-Russland-Rat auf Botschafterebene zusammenkommen. Dort müssen die Aufrüstungsspirale und das Eskalationsproblem mit all seinen immanenten Gefahren auf die Tagesordnung kommen. Wir brauchen einen Ausweg, ein Stopp-Signal. Das kann vielleicht von einem „NATO-Russland-Krisenzentrum“ gesetzt werden, wie es Wolfgang Ischinger vorgeschlagen hat. Auf jeden Fall ist jetzt die politische Ebene gefordert und muss in die Verantwortung genommen werden. Detente, verstanden als Selbstverpflichtung zum Dialog, ist keine Girlande für das vermeintlich eigentlich Wichtige, die Abschreckung. Unsere künftige Sicherheit hängt in einem hohen Maße davon ab, ob es mehr Gefahrenbewusstsein, Dialogbereitschaft und Kompromissfähigkeit bei den politisch Verantwortlichen gibt.