Menschenrechtsverstöße im Ukraine-Konflikt: "Wir sprechen von einem Massenphänomen"

BZ-INTERVIEW mit dem OSZE-Beauftragten Gernot Erler über Menschenrechtsverstöße im Ukraine-Konflikt und nötige Aufarbeitung, 19. Mai 2016.  

Der Osteuropaexperte Gernot Erler glaubt, dass eine Untersuchung von Kriegsverbrechen in der Ukraine bei der Suche nach einer politischen Lösung helfen und künftig Täter abschrecken könnte. Mit Erler sprach Dietmar Ostermann.

BZ: Herr Erler, Berichte wie den über Folter und Misshandlungen von Gefangenen durch prorussische Separatisten gibt es im Ukraine-Konflikt viele. Welche Konsequenzen haben solche Berichte?

Erler: Es hat in der Vergangenheit tatsächlich jede Menge solcher schwer verdaulichen Berichte über Menschenrechtsverletzungen im Ukraine-Konflikt gegeben. Allerdings hat der Bericht, der von den 17 Organisationen vorgelegt wurde, insofern eine andere Qualität, als er sehr konkret ist und auch Klarnamen sowohl von ukrainischen als auch russischen Beteiligten nennt. Das bringt die Sache näher an eine Untersuchung oder Strafverfolgung heran. Es ist ja auch vorgesehen, dass dieser Bericht an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag geht, der zuständig wäre.

BZ: Warum ist eine Aufarbeitung von Kriegsverbrechen oft schwierig?


Erler: Weil oft Beweise fehlen. Aber wenn man Namen von Folterern nennt, wenn man Örtlichkeiten genau beschreibt, wo teils auch nicht bestritten wird, dass dort so etwas vorgefallen ist, dann ist es möglich, das zu überprüfen.

BZ: Oft gibt es in Konflikten ein Spannungsverhältnis zwischen der Suche nach einer diplomatischen Lösung und der Strafverfolgung von Tätern. Sind ungesühnte Kriegsverbrechen der Preis, den man manchmal für Frieden zahlen muss?

Erler: Ich würde es in diesem Fall umgekehrt sehen. Wenn straflose Menschenrechtsverletzungen in dem von Separatisten kontrollierten Gebiet weiterhin stattfinden, dann kann man schwer widersprechen, wenn die ukrainische Seite sagt: Wie sollen eigentlich in so einem Gebiet Regionalwahlen durchgeführt werden, wie sie im Minsker Protokoll vorgesehen sind? Insofern wäre eine abschreckende Aufarbeitung und Untersuchung dieser Vorwürfe ein Beitrag dazu, dass Minsk umgesetzt werden kann. Wenn diese unzähligen Straftaten ungesühnt bleiben, besteht auch keine Abschreckung, weitere zu begehen. Dann verstärkt sich das Argument, dass das, was in Minsk vorgesehen ist, nicht möglich ist.

BZ: Wie könnte denn eine abschreckende Aufarbeitung konkret aussehen?

Erler: Schon alleine das Bekanntwerden von Namen, von Vorgängen, von Örtlichkeiten und die Tatsache, dass das auch dem Strafgerichtshof in Den Haag vorgelegt werden soll, kann eine abschreckende Wirkung haben, weil damit die Perspektive der Straflosigkeit unwahrscheinlich wird. Diese abschreckende Wirkung brauchen wir, weil wir hier von einem Massenphänomen sprechen, dass die Herausnahme von einzelnen Tätern allein an der Gesamtsituation nicht viel ändert.

BZ: Auch auf ukrainischer Seite gab es Menschenrechtsverstöße. Gibt es nicht auch dort Straflosigkeit?

Erler: Tatsächlich haben wir auch umfangreiche Berichte über Menschenrechtsverstöße, vor allem von Freiwilligenverbänden wie dem Asow-Bataillon, teils aber auch durch militärische Verbände, bis hin zu solchen Verbrechen wie standrechtlichen Erschießungen und Misshandlungen. Der Unterschied ist nur: Auf ukrainischer Seite wird zumindest ermittelt. Meines Wissens ist es auch hier bisher nicht zu Verurteilungen gekommen. Aber Ermittlungstätigkeit ist zu beobachten – und das ist ein Unterschied.

Gernot Erler, 72, ist SPD-Bundestagsabgeordneter, Russlandbeauftragter der Bundesregierung und seit Jahresbeginn Sonderbeauftragter für den deutschen Vorsitz bei der OSZE. Er wohnt in Freiburg.