Gernot Erler zum deutschen OSZE-Vorsitz: "Krisenmanagement ist angesagt"

BZ-Interview, 30. Dezember 2015

Zum 1. Januar übernimmt Deutschland für ein Jahr den Vorsitz der OSZE. Angesichts der Krise in der Ostukraine ist die Vereinigung heute wichtiger denn je. Gernot Erler, OSZE-Sonderbeauftragten der Bundesregierung, im BZ-Interview.

BZ: Herr Erler, was bedeutet die Übernahme des OSZE-Vorsitzes?

Erler: Jedes Jahr nimmt diese Aufgabe ein anderes Land wahr. Allerdings befinden wir uns politisch in einer Ausnahmesituation. Die OSZE ist die größte Sicherheitsorganisation der Welt mit 57 Teilnehmerstaaten, darunter die Vereinigten Staaten und Russland, und im Augenblick ist Krisenmanagement angesagt.
 

BZ: Welches sind Deutschlands Ziele?

Erler: Zum einen wollen wir die Institutionen innerhalb der OSZE stärken. Wir wollen dazu beitragen, dass die Prinzipien der OSZE wieder mehr Beachtung finden. Zum anderen geht es konkret darum, die Kämpfe in der Ukraine zu beenden, eine politische Lösung zu erreichen und zu versuchen, einen vertrauensbildenden Prozess mit der Russischen Föderation einzuleiten, nachdem diese die Regeln der OSZE – etwa Souveränität anderer Länder, Gewaltverzicht und Achtung der Grenzen – gebrochen hat.


BZ: Die OSZE hat lange ein Schattendasein geführt. Ist sie jetzt wieder wichtig, weil die Lage schlecht ist und andere Gesprächskanäle verstopft sind?

Erler: Das ist exakt der Fall, vor allem was die tiefe Krise im Verhältnis der Russischen Föderation zum Westen angeht. Da sind viele Dialogplattformen weggefallen, angefangen von Regierungskonsultationen und den EU-Russland-Gipfeln bis hin zur Gruppe der Acht führenden Industriestaaten, aus denen wieder die G7 wurde. Heute ist die OSZE eine der wenigen Plattformen, auf denen man einen intensiven Dialog führen kann. Das sieht übrigens auch Russland so.

BZ: Russland hat mit der Annektion der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine die Prinzipien der OSZE verletzt. Wie soll das innerhalb der OSZE repariert werden?

Erler: Wir haben unseren Vorsitz unter das Motto ,Dialog erneuern, Vertrauen bilden, Sicherheit schaffen’ gestellt. Daran werden wir arbeiten. Der Dialog ist schwierig und in Teilen ganz unterbrochen; ihn gilt es zunächst wieder aufzunehmen. Danach müssen wir versuchen, zerstörtes Vertrauen wieder herzustellen.

BZ: Wie soll das gehen?

Erler: Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass die Tatsache, dass wir zwei völlig verschiedene Narrative über die letzten 23 Jahre haben, zum Kern des Problems gehört. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist extrem unterschiedlich in der Russischen Föderation und im Westen. Wir wollen OSZE-Einrichtungen nutzen, um uns zunächst auf der Ebene der Zivilgesellschaft darüber auszutauschen, was eigentlich passiert ist. Warum ist Russland so frustriert, warum so negativ eingestellt gegenüber dem Westen, während wir dachten, an einem konstruktiven Verhältnis zu Russland zu bauen? Da spielt die Nato-Osterweiterung eine Rolle, die EU-Erweiterung, der Kosovo und der Irak-Krieg, die sogenannten farbigen Revolutionen und vieles mehr – ich kenne keine andere Organisation, die so gut wie die OSZE in der Lage wäre, einen Dialog zu führen, der uns zu den Hintergründen des Zerwürfnisses führt.

BZ: War es ein Fehler, diverse Gesprächsmöglichkeiten aufzugeben?

Erler: Es war ein nachvollziehbarer, aber bedauerlicher Reflex. Am deutlichsten wird das beim Nato-Russland-Rat. Der wurde geschaffen, damit man in Krisen- und Konfliktzeiten einen direkten Austausch hat, auch zwischen den Zuständigen für Sicherheit, um Zusammenstöße oder versehentliche Konfrontationen zu vermeiden und zu besprechen. Dass dieses Gremium ausgerechnet in der Ukraine-Krise außer Kraft gesetzt worden ist, war falsch. Das sehen wir schon an der Zunahme der militärischen Aktivitäten auf beiden Seiten – mit riesigen Militärmanövern, ständigen Überflügen von Militärmaschinen über internationalem Luftraum, aber auch an den Grenzen, die vorher nicht angekündigt werden. . .

BZ: … was ebenfalls gegen OSZE-Regeln verstößt...

Erler: Richtig. Es sind Verstöße, die immer wieder zu Beinahezusammenstößen führen. Welche Risiken für Spannungen das birgt, sehen wir derzeit nach dem Abschuss des russischen Militärflugzeugs durch die Türkei. Nicht umsonst hat der deutsche Außenminister jetzt erfolgreich dafür geworben, dass der Nato-Russland-Rat reaktiviert wird.

BZ: Immerhin war ja gerade die Bundesregierung immer um Kontakt mit Moskau bemüht. Ist Deutschland deshalb besonders dafür geeignet, die Wiederannäherung über die OSZE zu versuchen?

Erler: Zunächst haben die Amerikaner den Ukraine-Konflikt zur europäischen Aufgabe erklärt. Die Europäer wiederum haben gesagt, Ihr Deutsche habt die besten Beziehungen zu Russland, Ihr müsst Verantwortung übernehmen. Das hat Deutschland getan, aber klugerweise nicht allein, sondern gemeinsam mit Frankreich. Daraus ist das Normandie-Format (eine Gesprächsrunde auf Ministerebene zwischen Russland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine ohne offizielle Einbindung der pro-russischen Separatisten; die Red.) entstanden. Aber gerade hier ist nun die OSZE gefragt.

BZ: Inwiefern?

Erler: Ohne deren Überwachungsmission wüssten wir nicht, was vor Ort passiert. Ohne die Arbeit der sogenannten trilateralen Kontaktgruppe der OSZE hätten wir weder das Normandie-Format noch ein Minsker Abkommen, das die Grundlage für jede politische Lösung ist. Außerdem wird die OSZE bei der Kontrolle der ukrainisch-russischen Grenze eine entscheidende Rolle spielen. Dort soll die Zuständigkeit der Ukraine wiederhergestellt werden, das geht nur mit internationaler Beobachtung.
 

BZ: Allerdings läuft das Mandat für die Überwachungsmission im März aus. Mitarbeiter der OSZE werden häufig bedroht. Was für Konsequenzen hat das?

Erler: Im Augenblick haben wir 630 Beobachter vor Ort, davon 550 in der Ostukraine bei einer verabredeten Obergrenze von 1000. Nach Aussage der OSZE reicht das aus. Das Problem ist, dass die kämpfenden Gruppen OSZE-Mitarbeitern weiterhin oft den Zugang zu bestimmten Regionen versperren und damit die Kontrolle erschweren. Es geht ja um die Beobachtung des Rückzugs bestimmter Waffen und auch der Aktivitäten an der Kampflinie. Zum Glück gibt es einen Konsens, dass die OSZE gebraucht wird. Deshalb stellt kein Land ihre Mission prinzipiell in Frage, auch Russland nicht.

BZ: Und Verstöße gegen den Waffenstillstand und die Abmachungen von Minsk begehen beide Seiten?

Erler: Es gibt leider täglich Verletzte und an manchen Tagen auch Tote. Die größere Zahl der Verstöße liegt auf Seiten der Separatisten, aber es gibt sie auch von ukrainischer Seite. Das hängt damit zusammen, dass da auch Milizen aktiv sind, die nicht voll unter der Kiewer Kontrolle sind. Das Gleiche gilt für Söldner, die sich der Kontrolle der Separatisten entziehen.

BZ: Müsste die OSZE gestärkt und schlagkräftiger gemacht werden?

Erler: Ein Beratergremium von 15 Fachleuten aus 15 Ländern hat dazu im Vorfeld unseres Vorsitzes Pläne unterbreitet. Das Problem ist, dass die OSZE nach dem Konsensprinzip aufgebaut ist. Das heißt: Alles, was man ändern will, muss die Zustimmung von 57 Staaten bekommen. Das macht diesen Tanker schwer zu manövrieren. Kämpfen müssen wir eher darum, die bestehenden Institutionen innerhalb der OSZE aufrechtzuerhalten.

BZ: Die da wären?

Erler: Das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte in Warschau, die Hohe Kommissarin für nationale Minderheiten und die Beauftragte für die Freiheit der Medien. Das sind die drei wichtigsten menschenrechtsbezogenen Institutionen der OSZE. Bestimmte Länder versuchen jedes Jahr, deren Arbeit zu erschweren, indem sie ihnen im OSZE-Haushalt weniger Finanzmittel zubilligen wollen. Leider besteht die Mehrheit der Mitgliedsländer auch darauf, das OSZE-Budget eingefroren zu halten (bei etwa 140 Millionen Euro; die Red.) Dadurch werden die Gelder immer knapper.

BZ: Die OSZE ist gegründet worden, um die Blockbildung in Europa zu überwinden. Ein Politikansatz, den Sie Zeit Ihres Politikerlebens vertreten haben. Wie wichtig ist Ihnen persönlich da ihre Aufgabe als OSZE-Sonderbeauftragter der Bundesregierung?

Erler: Ich habe mich nicht darum beworben. Der Außenminister hat mich gebeten, das zu machen – auch wegen meines Standings als Staatsminister a. D. und meiner Erfahrung in Osteuropa. Er hat mich aber zugegeben an einem Punkt getroffen, an dem ich nicht nein sagen konnte: Ich bin ein Fan der OSZE und finde, sie hat mehr Beachtung verdient, als sie momentan bekommt. Gerade in der jetzigen Krisensituation sehe ich die Chance, die ganz besondere Rolle der OSZE als Vermittlungsinstanz zu nutzen.

 

Die OSZE
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Osteuropa ist aus der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hervorgegangen. Diese hatte in den 70er Jahren getagt. Die sogenannte KSZE-Schlussakte von Helsinki war der Versuch, die Blockbildung in Europa zu lockern. Die Unterzeichnerstaaten aus Ost und West einigten sich erstmals auf Prinzipien wie Anerkennung der Souveränität des jeweiligen Landes, Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Konfliktlösung und Achtung der Menschenrechte. Heute ist die OSZE ein System kollektiver Sicherheit.

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