Transskript der Rede von Dr. h. c. Gernot Erler, MdB: Ach Europa

eastforum Berlin, 22. April

Herr Dr. Vita, 

Herr Dr. Cordes,

Exzellenzen,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich möchte mich herzlich bedanken für die Einladung, an dieser Abschlussveranstaltung einen Impuls vorzutragen. Im Programm stand „Europe Dialogue“. Ich habe dann nachgefragt, was von mir erwartet wird. Da hieß es, „irgendwas über Europa“. Das war ziemlich großzügig, da konnte ich mir was aussuchen. Und ich habe mir als Titel ausgewählt, für meinen kurzen Impuls, die Überschrift „Ach Europa“. Ende der 80er Jahre erschienen unter diesem Titel „Ach Europa“ zwei Sammelschriften, die eine von Jürgen Habermas, die andere von Hans-Magnus Enzensberger. Beide waren wenig optimistisch, was die Zukunft Europas angeht. Heute meint man, diesen Seufzer „Ach Europa“ an vielen Orten zu hören, skeptisch bis resignierend, was das große Projekt Europa angeht, und natürlich gibt es dafür unübersehbare Hintergründe realer Natur. Und das möchte ich hier an drei Punkten belegen.

1. Da ist das, was verkürzt Eurokrise genannt wird, was uns seit 2008 begleitet, beinahe möchte man sagen, als ständiger Begleiter vertraut geworden ist. Wobei heute sich die Aufmerksamkeit sehr stark auf Griechenland konzentriert. Übrigens ablenkend davon, dass einige andere Fußkranke im europäischen Geleitzug ihre Gehhilfen schon wieder abgelegt haben oder gerade dabei sind, das zu tun, obwohl ich mich an die schlechten Prognosen für diese südlichen Länder noch gut erinnern kann. Und ich erschrecke manchmal über die Nonchalance und Sorglosigkeit, mit der nicht nur gelegentlich über ein Aufgeben Griechenlands und über einen sogenannten „Grexit“ gesprochen wird. Aber es ist eine Tatsache. Die Eurokrise hat dazu geführt, dass eine semantische Verschwisterung von EU und Krise stattgefunden hat, und das hat politische Wirkung.

2. Beleg: „Ach Europa“ möchte man auch bei einer hyperaktuellen Herausforderung ausrufen. Nämlich angesichts der Flüchtlingstragödien dieser Tage rund um und mitten auf dem Mittelmeer. Die Europäische Union ist eine wertebasierte Gesellschaft. Man staunt übrigens, wie schnell sich dieses Idiom „wertebasiert“ in unserem Sprachgebrauch festgefressen hat. Vor einem Jahr wäre man noch über diesen Begriff gestolpert. Wertebasiert hat Konjunktur, aber jetzt, angesichts der massenhaften Opfer verzweifelter Menschen, die ihre einzige Rettung in der Flucht nach Europa sehen, wird dieser Anspruch auf eine harte Probe gestellt. Eigentlich, meine Damen und Herren, liegen hier alle Instrumente auf dem Tisch und man bräuchte nur zuzugreifen. Als erstes natürlich eine verbesserte Seenotrettung, noch besser als das Programm Mare Nostrum, das fahrlässiger Weise im November letzten Jahres eingestellt wurde, aber auch eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf ganz Europa. Wertebasierte Gemeinschaft kann nicht heißen, dass hier diese Aufgaben nur von einer kleinen Zahl von Ländern, wie etwa Italien, Österreich, Deutschland und Schweden, wahrgenommen werden und von vielen anderen gar nicht. Weiter die Öffnung von Kanälen legaler Zuwanderung, vielleicht in Deutschland sogar über ein Einwanderungsgesetz. Natürlich die Bekämpfung von Schlepperbanden, und dazu gehört auch ein Entgegentreten dem Staatsverfall. Praktisch haben wir in Libyen schon die Situation eines failed state. Das ist weit fortgeschritten und dem muss man jetzt entschlossen entgegentreten. Und natürlich, und das wäre das Nachhaltigste, die Zukunftschancen der Menschen in den Herkunftsländern zu verbessern. Morgen findet ein ziemlich verzugslos einberufener EU-Sondergipfel zu diesem Thema statt. Hoffen wir mal, dass er nicht nur beschriebenes Papier produziert, sondern reale politische Reaktionen auf den Weg bringt, um auf diese Tragödien mit Taten zu antworten. Das wäre gut, auch als Signal gegen den galoppierenden Imageverlust von Europa.

Und noch ein 3. Punkt: Zweifel und Schuldzuweisungen in Richtung EU hat es in jüngster Zeit auch auf einem anderen Feld gegeben. Wir alle haben es schmerzlich mitverfolgt, wie aus der Ukraine-Krise der bisher ernsthafteste Konflikt zwischen Russland und dem Westen seit Ende des Kalten Krieges entstanden ist. Als eine Quelle dieser Fehlentwicklung wurde die EU-Strategie der Östlichen Partnerschaft ausgemacht, die den fünf Nachbarstaaten im Osten der EU sog. Assoziierungsabkommen angeboten und darüber verhandelt hat, wobei es in drei Fällen, nämlich bei der Ukraine, Georgien und Moldowa zum Abschluss gekommen ist. Wir alle wissen, dass das Ringen um das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine tatsächlich den Weg zu dem aktuellen Ost-West- Konflikt gebahnt hat, nachdem in Moskau die ganze EU-Politik der Östlichen Partnerschaft als ein Versuch der Europäischen Union zur Ausweitung der westlich-amerikanischen Einflusszone zu Lasten Russlands wahrgenommen und interpretiert wurde und damit zu einem Unteraspekt der generell als russlandfeindlich verstandenen Erweiterungspolitik der EU und der Nato deklariert wurde. Also auch hier wird die EU in die Defensive gedrängt.

In „Ach Europa“ schwingt da schon so etwas wie Mitleid mit, wohin es mit dem großen Projekt Europa gekommen ist, das aus der Dauerfinanzkrise nicht herauskommt, sichtbar am Beispiel Griechenland; das auf neue dramatische Herausforderungen offenbar zögerlich reagiert, wie beim Thema der Mittelmeerflüchtlinge. Und das vertraute Strategien, wie die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik jetzt auf die Prüfbank bringen soll. Meine Damen und Herren, ich halte das alles für eine gefährliche, ja fatale Entwicklung und ich würde mir eher wünschen, dass sich die EU auf ihre Stärken und auf die Koordinaten ihrer Anziehungskraft rückbesinnt, um sie für die neuen Herausforderungen weiter zu entwickeln.

Es gibt Gründe dafür, dass die EU sich aus einer losen Gemeinschaft von 6 Staaten zu einer Union von heute 28 Staaten weiterentwickelt hat, und das lag, aus meiner Überzeugung, an drei glaubhaften Versprechen. Das erste Versprechen war das Friedensversprechen, nämlich, dass alle Konflikte innerhalb der EU zivilisiert und auf politischem Weg gelöst werden. Dass kein Krieg mehr vorstellbar ist im Rahmen der EU und dass stattdessen eine friedliche Konfliktlösung möglich ist. Das zweite war das Prosperitätsversprechen, das auf der Basis des gemeinsamen Binnenmarktes und der wirtschaftlichen Kooperation win-win-Situationen für alle Beteiligten entstehen. Und das dritte, das war das Solidaritätsversprechen: Keiner wird zurückgelassen, und über die Struktur- und Ausgleichsfonds werden sogar in etwa vergleichbare Lebensstandards für alle Mitgliedsstaaten der EU angestrebt. Das hat immer die Attraktivität der EU ausgemacht, und deswegen gibt es auch bis heute keinen Mangel an zusätzlichen Beitrittskandidaten. Lange Zeit sind diese drei Versprechen nicht besonders gefordert, sondern in aller Stille wirksam umgesetzt worden. Seit 2008 hat sich das durch objektiv veränderte Rahmenbedingungen und die Krise im Weltfinanzsystem geändert. Wir sind mitten in der Bewährungsprobe. So schwierig sich die Verhandlungen mit Griechenland auch gestalten, letztlich geht es hier um die Glaubwürdigkeit des Solidaritätsversprechens. Es ist unvermeidlich, Hilfe an Bedingungen zu knüpfen. Es darf aber nicht einmal der Verdacht aufkommen, dass die Konditionalität nur als Hebel zum erzwungenen Rauswurf dienen soll. Und es ist erlaubt, die Sinnhaftigkeit von Konditionen zu hinterfragen und dabei Erfahrungen aus anderen Sanierungsstrategien heranzuziehen. Auch das Flüchtlingsthema muss in einen größeren Kontext gestellt werden. Die EU hat sich nie der Illusion hingegeben, sich als Wagenburg der Glücklicheren und der Reicheren organisieren zu können. Nein, sie hat aktiv Regionalstrategien entwickelt und sich mit einem Cordon von stabilen Regionen umgeben und sie hat in dieses Ziel auch Einiges investiert. Ich erinnere an die europäische Nachbarschaftspolitik, aus der letztlich die Östliche Partnerschaft und der Barcelona-Prozess entstanden sind. Ich erinnere an die Ostsee-Kooperation, die Donauraum-Kooperation, an den Stabilitätspakt für Südosteuropa, die Black Sea-Synergy und auch die Zentralasien-Strategie der EU. Dahinter, meine Damen und Herren, steckt immer derselbe Ansatz: Stabilität schaffen in den die EU umgebenden Regionen durch Prämierung von regionaler Zusammenarbeit und durch die Förderung von good governance als Voraussetzung jeder Stabilitätsentwicklung.

In diesem Kontext steht auch der Barcelona-Prozess, der sich dann zu dem Programm der Union für das Mittelmeer weiterentwickelt hat. Heute, angesichts der tagesaktuellen Katastrophen, wissen wir leider: mit zu wenig Wirkung, was die Zusammenarbeit und die Stabilisierung der Länder rund um das Mittelmeer angeht. In diesem Kontext steht auch die seit 2009 vorangetriebene Politik der Östlichen Partnerschaft. Der Ehrgeiz bestand darin, die 6 Länder dieser Region, also Ukraine, Belarus, Moldowa und die drei südkaukasischen Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan zu mehr regionaler Kooperation zu bringen, die Lösung der sogenannten „frozen conflicts“ voranzutreiben und über die Assoziierungsabkommen zu einem intensiven internen Reformprozess anzuregen, mit dem Ziel, gute Regierungsführung zu erreichen und das nach den EU-Maßstäben. Eigentlich, das sage ich oft, ein kleiner acquis communautaire, der hier drinnen steckt in den Assoziierungsabkommen.

Seien wir ehrlich, wer sich, wie das eastforum, Gedanken macht, da oben steht es noch, zu „opportunities for an economic area from Lisbon to Vladivostok“ der wird um Reformprogramme wie diese nicht umhinkommen. Der wird auch auf eine Weiterentwicklung der von der Deutschen EU- Ratspräsidentschaft 2007 auf die Schienen gebrachten EU-Zentralasien-Strategie setzen, also für die Länder Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan und Tadschikistan, mit Programmen zum Beispiel für einen Kampf gegen Drogenhandel und organisierte Kriminalität, mit Programmen für ein umfassendes Energie- und Wasserverbundsystem, das heute Afghanistan auch einbeziehen sollte.

Mit Programmen für eine eigene ökonomische Basis für diese Region, damit nicht, wie das jetzt der Fall ist, mehr als 7 Mio. Menschen als Wanderarbeiter ihr Glück in der benachbarten Russischen Föderation oder in den anderen Nachbarstaaten suchen müssen. Und er wird auch letztlich anerkennen müssen, dass die EU-Erweiterungspolitik, da wo sie sich tatsächlich festgelegt hat, fortgesetzt werden muss. Wer den Rückfall der Westbalkan-Region in alte blutige Konfliktmuster verhindern will, der muss an der 2003 in Thessaloniki versprochenen EU-Beitrittsperspektive für die Nachfolgestaaten der Jugoslawischen Föderation und Albanien festhalten. Es wird alles lange dauern, 8 Jahre hat Kroatien von 2005 bis 2013 gebraucht, um es zu schaffen, als erstes Land aus dieser Region tatsächlich Mitglied der EU zu werden. Inzwischen wird mit Serbien und Montenegro verhandelt. Aber die Perspektive ist es, die es schafft, ein konstruktives Momentum, auch wenn das im Augenblick für sich allein, zum Beispiel in Bosnien Herzegowina oder auch in Mazedonien, leider nicht zu den Entwicklungen führt, die wir uns wünschen. Aber ohne diese Perspektive sähe die Option für diese Region mehr als düster aus, das ist meine tiefe Überzeugung. Und deswegen will die Bundesregierung, dass wir Ende Mai bei dem Riga-Gipfel der Östlichen Partnerschaft Wege finden, diesen regionalen Ansatz konstruktiv weiterzuführen. Deswegen haben wir uns gefreut, dass die lettische Ratspräsidentschaft das Thema Zentralasienstrategie erneut zu einen Schwerpunkt gemacht hat. Lange haben wir darauf warten müssen, und deswegen halten wir fest an den Zusagen der EU für eine Fortsetzung der Erweiterungspolitik in der Westbalkanregion, weil wir auf das positive Momentum für diese Perspektive in der Region nicht verzichten können.

Und ganz zum Schluss, meine Damen und Herren, es war die EU, die im August 2008 im 5-Tage-Krieg im Kaukasus erfolgreich vermittelt hat und einen Waffenstillstand zwischen Georgien und der Russischen Föderation erreichen konnte, und es ist heute die EU, die sich bisher in dem neuen Ost-West-Konflikt auf eine gemeinsame Politik verständigt hat, nämlich jede militärische Lösung ausschließend auf eine diplomatisch-politische Lösung zu setzen und diese in verschiedenen Verhandlungsformaten voranzubringen und dabei offen zu bleiben für jeden Dialog über berechtigte Interessen beider Konfliktseiten, der Russischen Föderation wie der Ukraine.

„Ach Europa“, dieser Seufzer voller Skepsis bis Resignation wird nicht verstummen, er folgt auch einem gewissen aktuellen Trend, aber er muss aushalten, dass man ihn gelegentlich mit einigen Fakten und Erfahrungen konfrontiert, und das habe ich gerade versucht.

Vielen Dank, dass Sie mir dabei zugehört haben.