Erler: Wir brauchen viel Geduld
Gernot Erler im Gespräch mit Souverän, Juni 2015 Frage: Herr Erler, Sie sind seit 1987 Mitglied des Bundestages, haben also die politische Entwicklung der deutsch-sowjetisch-russischen Beziehungen persönlich miterleben können. Noch 2001 sprach Wladimir Putin unter großem Beifall im Bundestag. Ab welchem Punkt verschlechterten sich die Beziehungen und wie würden Sie den aktuellen Stand dieser Beziehungen beschreiben? Erler: Größere Probleme zwischen Russland und dem Westen entstanden bereits im Kontext der Duma- und Präsidentenwahlen 2011/2012, bei denen Putin zurückkehrte als Kremlchef, danach aber massiv gegen die Opposition vorging und sie kriminalisierte. Das bildete auch den Hintergrund für die harte westliche Kritik an den Olympischen Spielen von Sotschi im Winter 2014, die wiederum in Moskau starke Frustrationen auslöste. Aber seit März 2014 mit der Annexion der Krim hat sich aus der Ukraine-Krise tatsächlich der ernsthafteste Konflikt zwischen dem Westen und der Russischen Föderation seit dem Ende des Kalten Krieges entwickelt. Frage: Putin warnt seit der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahre 2007 den Westen vor außenpolitischen Alleingängen und der weiteren Ausdehnung der NATO. Von daher ist die Reaktion Russlands auf das Handeln des Westens im Falle der Ukraine doch eigentlich keine Überraschung …? Erler: Richtig ist, dass die russische Ablehnung der NATO-Osterweiterung seit langem bekannt ist. Die westliche Ukraine-Politik zielt allerdings weder auf einen Beitritt von Kiew in die EU noch in die NATO ab. Die NATO-Gipfel von 2008 und 2014 haben den ukrainischen Beitrittswünschen nicht entsprochen. Und das Assoziierungsabkommen der EU führt die Ukraine zwar an die EU heran, gilt aber eigentlich als Alternative oder Ersatz für eine Beitrittsperspektive. Im Übrigen wurde das Assoziierungsabkommen mit der EU zwischen 2010 und 2012 mit dem prorussischen ukrainischen Präsidenten Janukowytsch ausgehandelt, der erst in allerletzter Minute von Moskau dazu bewegt werden konnte, dieses Abkommen im November 2013 nicht zu unterzeichnen. Die Fakten können Russlands harte Reaktionen also nicht erklären. In Moskau gilt aber die Sichtweise, die EU sei nur ein Handlanger amerikanischer geopolitischer Interessen, die auf eine Reduzierung des russischen politischen Einflusses generell und speziell in der Ukraine ausgerichtet seien. Frage: Welchen Stellenwert haben bilaterale Beziehungen, wie die zwischen Russland und Deutschland, im Verhältnis der Gemengelage EU-NATO-Russland? Können wir als „Moderator“ zwischen Russland und den westlichen Bündnissen fungieren und zur verbalen Abrüstung beitragen? Erler: Von allen 28 EU-Staaten hat sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland am intensivsten entwickelt. Das gilt für die Wirtschaft mit einem Handelsvolumen von 76 Milliarden Euro (2013) und 350 000 durch den Russlandhandel begründeten Arbeitsplätzen, das gilt für die Energieversorgung, bei der sich Deutschland beim Gas zu 39, beim Öl zu 36 Prozent auf russische Lieferungen verlässt, und auch für die Gesellschaft, mit 100 Städtepartnerschaften, 800 Hochschulpartnerschaften und einem jährlich mit neuen Programmen intensivierten Kulturaustausch. Vor diesem Hintergrund war es keine Überraschung, dass alle auf Deutschland blickten, als es darum ging, aus der EU heraus Verantwortung für die Suche nach einem politischen Ausweg aus der Krise zu übernehmen. Frage: Die Gesprächsfäden auf vielen offiziellen Ebenen sind durchtrennt (worden). Wo gibt es noch Kontakte und über welche Themen kann/muss man wieder mit Russland ins Gespräch kommen (beispielsweise über die Projektreihe „Gemeinsam die Zukunft gestalten, die seit Sommer 2014 läuft und Projekte aus Kultur, Bildung, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik umfasst)? Erler: In Wirklichkeit haben wir einen Substitutionsprozess erlebt: statt Konsultationen mit Moskau im Rahmen der EU-Russland-Gipfel, der Deutsch-Russischen Regierungskonsultationen, des NATO-Russland-Rates, der G 8 haben wir eine intensive Telefondiplomatie, die zahlreichen Treffen der Regierungschefs im „Normandie-Format“ (Russland, Ukraine, Frankreich, Deutschland), die häufigen Zusammentreffen der Außenminister dieser vier Länder, die Kontaktgruppe-Treffen im Rahmen der OSZE. In Wirklichkeit ist also der Gesprächsfaden nie unterbrochen worden, er hat sich aber verlagert. Und im Kulturbereich bemühen sich beide Seiten, die vereinbarten Programme weiter durchzuführen und die Einschränkungen in Grenzen zu halten. Frage: Wie können Sie persönlich konstruktiv in Ihrer Funktion und mit Ihrer Erfahrung in diesen Prozess eingreifen? Die Gefahr, politisch und medial als „Russlandversteher“ diskreditiert zu werden, ist ja durchaus real. Erler: Meine Aufgabe ist es, mich um die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Kontakte mit Russland und mit den anderen postsowjetischen Staaten zu kümmern. Das ist nicht einfach. In Russland steht im Umfeld nationalistischer Emotionen die gesamte kritische Zivilgesellschaft unter Druck. Wer sich nicht ausdrücklich zur Ukrainepolitik des Kreml bekennt, wird schnell als „National-Verräter“ und Mitglied einer „5. Kolonne“ ausgegrenzt. Um diese Partner müssen wir uns gerade jetzt besonders kümmern. Das versuche ich. Frage: Die Spirale der Drohgebärden, Sanktionen und Schaffung von Fakten ist beunruhigend und ein Ende nicht absehbar. Wie kann die Spirale gestoppt werden? Erler: Es gibt einen Fahrplan zu einer politischen Lösung der Krise, vorgegeben durch das Maßnahmen-Paket von Minsk. Nur wenn es gelingt, alle 13 Punkte dieses Pakets auch nachprüfbar umzusetzen, kann wieder Vertrauen dazu entstehen, dass ein Rückfall in eine militärische Auseinandersetzung nicht mehr zu befürchten ist. Deswegen ist Minsk so wichtig und deswegen konzentrieren sich unsere Anstrengungen auf eine Umsetzung von Minsk. Frage: Wie sinnvoll ist aus Ihrer Sicht eine Fortsetzung oder gar Verstärkung der Sanktionen? Erler: Verabredet wurde innerhalb der EU die Fortsetzung der Sanktionen von der Umsetzung des Minsk-Pakets abhängig zu machen. Das macht Sinn, denn es gibt keinen Selbstzweck der Sanktionen, die nur Druck auf Moskau ausüben sollen, sich konstruktiv um eine politische Lösung des Konflikts zu bemühen. Sollte eine solche politische Lösung an der russischen Seite scheitern, wäre auch eine Erweiterung der Sanktionen denkbar. Aber das wünscht sich wirklich niemand. Frage: Kann eine föderalistische Lösung für die Ukraine den Konflikt entschärfen? Erler: Eine Dezentralisierung und einen Sonderstatus der Gebiete von Donezk und Luhansk gehören zu dem Minsker Maßnahmenpaket. In Kiew macht man eine genaue Unterscheidung zwischen Dezentralisierung und Föderalisierung – letztere wird aus Furcht vor einem Auseinanderfallen der Ukraine strikt abgelehnt. Frage: Wie beurteilen Sie die Einschätzung, dass man in Europa nur Politik MIT Russland machen kann, niemals OHNE und schon gar nicht GEGEN Russland? Erler: „Sicherheit in und für Europa lässt sich nur mit und nicht gegen Russland erreichen“ – so heißt es im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, und diese Feststellung bleibt gültig. Putins Politik hat die Europäische Friedensordnung in erheblicher Weise verletzt. Aber eine dauerhafte Ausgrenzung und Isolierung behebt diesen Schaden nicht. Es ist im deutschen und europäischen Interesse, zu partnerschaftlichen Verhältnissen mit Russland zurückzukehren. Das kann ein Prozess sein, der Jahre dauert. Wir brauchen dazu eine gemeinsame EU-Politik. Und viel Geduld. Frage: Wie stark ist das Fundament der russischen Position, also die Handlungsstärke von Präsident Putin? Gibt es in Russland denn keine „Deutschland-Versteher“ bzw. „Europa-Versteher“, die auch mahnend und mäßigend in der russischen Politik wirken könnten? Erler: Putins Zustimmungsraten bleiben anhaltend hoch. Aus russischer Sicht erhebt er das Land „von den Knien“ und knickt nicht gegenüber dem Westen ein. Das ist populär. Parallel dazu läuft eine Debatte über die künftige Ausrichtung Russlands: Soll man sich gänzlich China und Asien zuwenden oder braucht man für eine dringend erforderliche Modernisierung des Landes den Westen als Partner? Es gibt durchaus auch im politischen Establishment Mahner, die vor einem einseitigen „Pivot to Asia“ warnen. Der Ausgang dieser Debatte bleibt aber offen.