Wendet Moskau sich vom Westen ab?

RUSSLANDBEAUFTRAGTER IM GESPRÄCH

Neue Osnabrücker Zeitung, 12. Juni 2015

 Osnabrück. Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, hat davor gewarnt, dass Russland sich weltpolitisch neu orientieren könnte.

Erler sagte im Gespräch mit unserer Redaktion: „Am 25. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit steht die Russische Föderation im tiefsten Konflikt mit dem Westen seit dem Ende des Kalten Krieges, und sie befindet sich mitten in einem Prozess der Reorientierung.“ Die westliche Kritik an der Annexion der Krim und an den Interventionen in der Ostukraine werde nicht akzeptiert und rufe im Lande Kräfte wach, „die vorschlagen, sich vom Westen abzuwenden“.

Als Alternativen werden in Moskau nach den Worten von Erler unter anderem die G-20-Staatengruppe und die BRICS-Staaten genannt (BRICS steht für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Außerdem verwies Erler auf die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), die Eurasische Wirtschaftsunion und die „chinesische Karte“. Er betonte: „Der Ausgang dieser Orientierungssuche erscheint offen.“

„Gefährlicher Härtetest“

Der SPD-Politiker warnte davor, Waffen an die Ukraine zu liefern und damit einem „Stellvertreterkrieg“ auf europäischem Boden die Tür zu öffnen. Deutschland unterstütze stattdessen die europäischen Bemühungen, eine politische Lösung des Konflikts mit Russland zu finden. Um diesem Ansatz Nachdruck zu verleihen, habe sich die EU auf ein stufenweises Sanktionsregime verständigt. Erler erläuterte, Russland habe, gerade auch wegen der für beide Seiten vorteilhaften Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland, nicht mit einer solchen Rolle Berlins gerechnet und sehe deshalb die bilateralen Beziehungen „in einem gefährlichen Härtetest“.

Opposition als Feind eingestuft

Alles Weitere hängt nach den Worten von Erler davon ab, ob Russland bis Ende des Jahres – bis dahin sollen die EU-Sanktionen verlängert werden – tatsächlich das von Präsident Wladimir Putin akzeptierte Minsker Maßnahmenpaket zur Beilegung des militärischen Konflikts im Osten der Ukraine Punkt für Punkt umsetzt. „Wir hoffen nachdrücklich darauf, dass das so passiert.“

Der Russlandbeauftragte beklagte ferner, Putin habe sich nach den Straßenprotesten gegen seine Wiederwahl 2011/2012 entschieden, die Opposition in Russland „nicht als Gesprächspartner, sondern als Feind zu behandeln“. Schon vor dem Ukraine-Konflikt hätten Prozesse der Marginalisierung und Kriminalisierung oppositioneller Bestrebungen das gesellschaftliche Klima bestimmt. In der gegenwärtigen Konfliktsituation würden kritische Stimmen als „Nationalverräter“ oder Anhänger einer „5. Kolonne“ noch weiter an den Rand gedrängt. Der Zivilgesellschaft werde weiterer Boden unter den Füßen weggezogen, etwa mit dem „Agentengesetz“ oder mit dem „Gesetz über unerwünschte Organisationen“.

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