"Putin lässt den Westen im Unklaren"

Interview Badischen Zeitung 3. März 2015 mit Annemarie Rösch. 

Der Freiburger SPD-Politiker Gernot Erler über den Mord an Boris Nemzow und die Politik des russischen Präsidenten.

BZ: Herr Erler, wie deuten Sie Präsident Putins Worte, das Attentat sei eine Provokation, um Russland zu destabilisieren?

Erler: Putin will damit Schaden von der russischen Führung abwenden. Viele Teilnehmer am Trauerzug für Nemzow hatten ja die Vermutung geäußert, die Führung stecke selbst hinter dem Mord.

BZ: Ist diese These der Demonstranten denn so abwegig?

Erler: Ich selbst kenne keinen seriösen Politiker, der ernsthaft annimmt, Putin habe den Mord in Auftrag gegeben. Allerdings stimme ich der These zu, dass Putin eine gesellschaftliche Atmosphäre geschaffen hat, die eine solche Untat möglich machte. Man denke nur an seine berühmte Rede anlässlich der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim. Damals nannte er alle, die die Annexion kritisierten, Vaterlandsverräter und eine fünfte Kolonne. Damit unterstellte er auch der russischen Opposition, sie werde vom Ausland bezahlt. Die ganzen Proteste auf dem Maidan in Kiew waren aus Putins Sicht ohnehin eine Konstruktion der USA, um ihre Macht auszudehnen. Mit seinen Unterstellungen hat er eine vergiftete Atmosphäre in Russland geschaffen.

BZ: An dem Trauermarsch für Nemzow nahmen immerhin bis zu 55.000 Menschen teil. Ist das ein Anzeichen dafür, dass Putin Unterstützer verliert?

Erler: Ich glaube, dass Putin noch immer in der Bevölkerung viel Unterstützung genießt. Viele befürworten seinen Kurs, dem Westen nicht nachzugeben und an der Krim festzuhalten. Bei der letzten Umfrage lagen die Zustimmungsraten für Putin bei 86 Prozent. Viele Russen glauben fest daran, dass in Kiew eine rechtsgerichtete Regierung an der Macht ist, der es entgegenzutreten gilt. Ich denke, daran wird sich kurzfristig nichts ändern. Wenn sich aber die Wirtschaft weiter verschlechtert und die Bevölkerung das zu spüren bekommt, könnte sich das Blatt wenden. Schon jetzt gibt es Gerüchte über Entlassungen und Gehaltsreduzierungen.

BZ: Warum glauben viele Russen so unkritisch Putins Verschwörungstheorien und hören nicht auf Kritiker wie Nemzow, der Putins Politik in der Ukraine scharf verurteilte?

Erler: Die russischen Medien verbreiten viel Propaganda. Wörtlich spricht man von einer "faschistischen Junta", die in Kiew heute an der Macht ist. Diese Thesen werden auch mit Bildern vom Maidan untermauert. Tatsächlich gab es dort unter den Demonstranten auch Rechtsradikale, aber sie waren eine Minderheit.

BZ: Inwieweit ist es für westliche Politiker noch möglich, mit einem Politiker wie Putin ernsthaft zu reden, der solche Verschwörungstheorien verbreiten lässt?

Erler: Das ist außerordentlich schwierig. Doch die westlichen Politiker haben entschieden, keine militärische, sondern eine Verhandlungslösung anzustreben. Das größte Problem ist, dass Putin den Westen im Unklaren lässt, er sagt nicht, was er wirklich in der Ukraine will. Reicht ihm die Annexion der Krim aus oder will er in den von den Separatisten gehaltenen Regionen einen Pufferstaat schaffen? Kann er sich mit einer von Russland völlig unabhängigen Ukraine abfinden, die aber verbindlich auf eine Mitgliedschaft in der Nato verzichtet? Wir wissen all das nicht und bekommen auch keine belastbare Auskunft. Wir haben oft den Eindruck, dass Putin auf Sicht entscheidet. Es kann aber auch sein, dass er bewusst damit arbeitet, den Westen zu verunsichern. Das hat zu einem großen Vertrauensverlust geführt. Wir sind jetzt aber zumindest froh, dass das zweite Minsker Abkommen besser umgesetzt wird als das erste vom September. Zumindest gibt es Bewegung beim Abzug der schweren Waffen.

BZ: Müssen wir uns auf einen neuen Kalten Krieg mit Russland einstellen?

Erler: Die EU ist dabei, eine Strategie zu entwickeln, um das zu verhindern. So haben wir trinationale Gespräche zwischen EU, Ukraine und Russland über das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine angestoßen. Dort hatten die russischen Vertreter Gelegenheit, ihre Bedenken dagegen vorzutragen. In Minsk wurde auch Putins Idee von 2010 aufgegriffen, eine gesamteuropäische Zone der Sicherheit und wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu schaffen, die von Lissabon bis Wladiwostok reicht. Wenn Putin da einen Erfolg mit nach Hause bringt, so unsere Hoffnung, könnte ihn das motivieren, sich auf einen Kompromiss in der Ukraine einzulassen. Aber auch da haben wir keine Antwort bekommen. Eine Rückkehr zu Strukturen des Kalten Krieges können wir also nicht ausschließen.