Gernot Erler in der 20. Sitzung des Deutschen Bundestages, 13. März 2014: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU zur Lage in der Ukraine am 6. März 2014

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben das Gefühl: Die Vorgänge, die gegenwärtig zwi­schen der Ukraine und der Russischen Föderation ablaufen, können zur Entstehung neuer Bruchlinien führen - Bruchlinien, die uns allen schaden werden, Bruchlinien, die sehr kostspielig werden können, und zwar für alle Beteiligten, Bruchlinien, die - das haben wir nicht mehr für möglich ge­halten - mitten durch unseren Kontinent laufen. Wir sind in einem Prozess, der mit wachsender Wahrscheinlichkeit zu einem fatalen Tabubruch führen wird, nämlich zu ei­ner mutwilligen und rechtswidrigen Veränderung von Grenzen.

Wir befinden uns in diesem Jahr in einem Gedenkjahr, in dem an zwei Weltkriege gedacht wird; die Bun­deskanzlerin hat daran erinnert. In der Vergangenheit sind Millionen Menschen dafür gestorben, dass Grenzen verändert werden sollten, oder beim Kampf dafür, solche Grenzveränderungen zu verhindern. In Deutschland er­innern wir uns außerdem daran, wie wichtig es friedenspolitisch war, dass unser Land die im Zweiten Weltkrieg neu gezogenen Grenzen anerkannt hat. Ohne diese Aner­kennung, ohne die glaubhafte Selbstverpflichtung, diese Grenzen nie wieder verändern zu wollen, hätte es die Ost- und Entspannungspolitik von Egon Bahr und Willy Brandt, die all ihre Nachfolger fortgesetzt haben, nicht geben können.

Die schrittweise Grenzveränderung auf der Halbinsel Krim - erst Unabhängigkeitserklärung, dann Referen­dum, dann Eingliederung in die Russische Föderation, und das alles wahrscheinlich innerhalb von nicht viel mehr als einer Woche - stellt einen gefährlichen Tabubruch dar.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ­NEN])

Wenn russische Kolleginnen und Kollegen über die Ukraine sprechen, habe ich immer wieder das Attribut „Brudervolk" als Ausdruck für eine besondere sprachli­che, kulturelle, geschichtliche und auch emotionale Nähe gehört.

(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder Bevormundung!)

Aber wohin soll es führen, wenn man so mit einem Brudervolk umgeht? In der internationalen Politik gibt es Werte, Regeln und Prinzipien, zu denen sich alle be­kennen und für deren Kontrolle und Einhaltung wir Organisationen geschaffen haben, etwa die Vereinten Nationen, den Europarat oder die OSZE. Niemand be­hauptet, dass diese Regelwerke und Prinzipien immer, auch dem Geiste nach, eingehalten werden; aber sie sind wichtig, ja unverzichtbar für das Zusammenleben auf unserem Planeten und auf unserem Kontinent.

Das weiß auch Russland. Es ist noch nicht lange her, dass Moskau in zwei verlustreichen Kriegen die Separa­tion Tschetscheniens im Nordkaukasus gestoppt hat. Wollen jetzt unsere Duma-Kolleginnen und -Kollegen tatsächlich einen Berufungstatbestand für künftige sepa­ratistische Bestrebungen schaffen? Ist das wirklich eine vernünftige, nachvollziehbare Vertretung russischer In­teressen?

Noch eines: Im Budapester Memorandum von 1994 und im bilateralen Vertrag über Freundschaft, Koopera­tion und Partnerschaft von 1997 hat Russland die Unab­hängigkeit und die territoriale Integrität der Ukraine ver­traglich garantiert. Wenn in den nächsten Tagen das eintritt, was wir befürchten, dann haben wir es auch mit einem eklatanten Vertragsbruch zu tun, und zwar durch eine sehr starke Macht gegenüber einem Nachbarland, das sich in der Realität nicht dagegen wehren kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜND­NIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich frage unsere Abgeordnetenkollegen in Moskau: Kann es wirklich im Interesse Russlands sein, ein solch schlechtes Beispiel für die internationale Politik zu geben? Wie will derjenige, der selbst vertragsbrüchig wird, noch auf Einhaltung von Verträgen pochen, wenn sie im eigenen Interesse - und da fallen mir einige für Russland ein - sind?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Über all dies muss geredet werden, und zwar zwi­schen den Betroffenen: zwischen Vertretern Russlands und der Ukraine. Die russische Kontaktsperre gegenüber den Repräsentanten der ukrainischen Übergangsregie­rung ist der Brisanz der Lage nicht angemessen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Erwachsene Nationen finden einen Weg zum wechsel­seitigen Dialog, auch wenn Legitimationen infrage ge­stellt werden. Auch dafür findet man übrigens in der jüngsten deutschen Geschichte Beispiele, die in Moskau wohlbekannt sind.

Die Bundesregierung hat gekämpft: sowohl die Bun­deskanzlerin als auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Ich glaube, der wichtigste Erfolg war das Abkommen vom 21./22. Februar, weil es die Gewalt in Kiew, die zu vielen Opfern führte, beendet hat.

Die Bundesregierung hat für eine Kontaktgruppe zur Überwindung der eskalationsfördernden Sprachlosig­keit gekämpft. Die russische Führung hat nicht einfach Nein gesagt, aber den inzwischen von vielen anderen Ländern unterstützten Vorschlag dilatorisch behandelt. Das hat die Lage verschlechtert, auch deshalb, weil die Realitätswahrnehmungen zwischen Russland und der westlichen Welt immer weiter auseinanderdriften. Dafür hat es auch Beispiele in dieser Diskussion gegeben: Der Maidan ist für die einen ein faschistisch gesteuerter Um­sturz mit großen Gefahren für alle russischsprachigen Ukrainer. Für die anderen ist der Maidan ein von muti­gen Menschen von unten erzwungener Regime Change, der sich gegen keine andere Gruppe der Bevölkerung wendet. Das sind letztlich zwei unvereinbare Wahrheitsansprüche, die möglicherweise beide korrigiert werden müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir wissen aber aus der Konfliktforschung, dass eine solche Drift von Realitätswahrnehmung tendenziell zu einer gefährlichen Dialogunfähigkeit führt, weil sich je­der in seiner Sicht der Dinge einigelt und damit sein politisches Vorgehen legitimiert. Deswegen noch ein­mal: Das muss geklärt werden, darüber muss gesprochen werden, und zwar besser heute als morgen.

Ich finde, die Politik der Bundesregierung verdient Unterstützung vom ganzen Haus. Die EU hat einen Stu­fenplan von Sanktionen beschlossen. Niemand sollte sich Illusionen über die Handlungsfähigkeit der EU ma­chen. Zug um Zug wird dieser Stufenplan vollzogen, wenn es keine Änderung der russischen Politik gibt.

Wir brauchen und erwarten aber, dass zwischen je­dem dieser Schritte eine Tür mit der Aufschrift „Exit" offen steht, mit der Einladung zur gemeinsamen Suche nach einer politischen Lösung. Es ist nie zu spät, durch diese Tür zu gehen. Das ist mein letzter Appell an die russische Führung und an unsere Kolleginnen und Kolle­gen aus dem russischen Parlament.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜND­NIS 90/DIE GRÜNEN])