Erler: Wir wissen, dass die Sanktionen uns selbst schaden

Interview von Gernot Erler im „Kommersant“, 6. Oktober 2014 (Übersetzung)

Der Koordinator der Bundesregierung für die Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft, Gernot Erler, war zu einem Besuch in Moskau. Der Kommersant-Korrespondentin Galina Dudina erzählte er, wann die Sanktionen gegen Russland aufgehoben werden. 

Galina Dudina: In der vergangenen Woche gab es Medienberichte über mögliche neue Sanktionen gegen Russland, dabei berief man sich auch auf die harte Haltung Berlins. Ist es tatsächlich so?

Gernot Erler: In der Frage von Sanktionen ist Deutschland traditionell zurückhaltend und strebt nach einem Kompromiss mit den anderen europäischen Ländern, von denen einige den Prozess forcierten. Berlin hat dabei stets darauf bestanden, dass in jeder Phase der Sanktionen ein Weg zurück offenbleibt für den Fall, dass die russische Politik konstruktiv wird.

Allerdings sind derzeit viele europäische und auch deutsche Politiker vom Vorgehen Russlands und der russischen Führung enttäuscht. Es geht jetzt um die Umsetzung der Vereinbarungen der Kontaktgruppe vom 5. und 19. September. Leider sehen wir aber nicht, dass Russland aktiv in die Umsetzung eingebunden ist. Insbesondere ist mir nach meinen Gesprächen in Moskau nicht klar, wie die Kontrolle der Grenzen durchgeführt werden soll. Offenbar hat Russland hier Bedenken: Überraschend wird gefragt, um welche Grenzabschnitte es gehe und wie weit die Kontrolle ausgedehnt werde und es wird die Frage der Souveränität Russlands aufgeworfen.

Praktisch sehen wir keinen Druck Russlands auf diejenigen, die Donezk und Lugansk kontrollieren, dahingehend, dass die Vereinbarungen Schritt für Schritt umgesetzt werden können. Die Freischärler in Donezk und Lugansk wollen am 2. November eigene Wahlen abhalten, was in den Vereinbarungen der Kontaktgruppe nicht vorgesehen ist. Das bedeutet, dass sie die Vereinbarungen als einen Schritt in Richtung Unabhängigkeit auslegen, was nach dem Anschluss der Krim ein schwerer Schlag für die territoriale Integrität der Ukraine wäre.

Good-Will-Erklärungen reichen uns nicht aus. Die deutschen Politiker, nicht nur die Kanzlerin, auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier, erwarten jetzt, dass die von Russland unterzeichneten Vereinbarungen auch umgesetzt werden. Es braucht Handlungen, es braucht Engagement vor Ort

Galina Dudina: Wie würden Sie die positive oder negative Dynamik der weiteren Entwicklung bewerten?

Gernot Erler: Das ist einfach: Die zwölf Punkte der Vereinbarungen vom 5. September und die neun Punkte der Vereinbarungen vom 19. September müssen umgesetzt werden. Etwas anderes verlangen wir nicht. Sie entsprechen ja ungefähr den sieben Punkten, von denen Wladimir Putin in Ulan-Bator sprach, sowie dem Friedensplan von Petro Poroschenko.

Es ist genug Zeit vergangen, um mit der Umsetzung der Vereinbarungen zu beginnen. Es sind 3.500 Menschen ums Leben gekommen und da, wo noch immer geschossen wird, wie am Flughafen Donezk, sterben weiter Menschen, obwohl wir eine 15-km-Pufferzone vereinbart haben.

Galina Dudina: Halten Sie das Vorgehen der ukrainischen Seite bei der Umsetzung der Vereinbarungen für erfolgreicher?

Gernot Erler: Ich will jetzt die russische und die ukrainische Seite nicht einander gegenüberstellen. Wir haben auch Kiew stets unsere Beobachtungen und Forderungen kommuniziert und einzelne Aspekte der ukrainischen Politik offen kritisiert: die unzureichende Abgrenzung von rechtsradikalen Kräften während des Maidan und danach, die fehlende Klarheit zu den Schüssen auf dem Maidan im Februar und zur Tragödie von Odessa. Dabei war der deutsche Außenminister der einzige, der tatsächlich auch in Odessa war. Also wir führen den Dialog aktiv auch mit der ukrainischen Seite und stellen nicht einfach nur Forderungen an Russland. Wir haben von Anfang an gesagt, dass es für das Problem keine militärische Lösung gibt und begrüßen jetzt selbstverständlich den Waffenstillstand und die Wiederaufnahme direkter Kontakte, auch zwischen Petro Poroschenko und Wladimir Putin.

Galina Dudina: Anfang September hat die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer die Ergebnisse einer Umfrage zum Einfluss der Wirtschaftssanktionen auf das Geschäftsklima in Russland präsentiert. Die Mehrheit der Befragten äußerte negativ sich zu den Sanktionen. Wie wurde dies in Berlin aufgenommen?

Gernot Erler: In Deutschland wird dieses Thema aktiv diskutiert. Wir haben selbstverständlich die Stellungnahme des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft berücksichtigt und wissen, dass etwa 350.000 Arbeitsplätze in Deutschland vom Handel mit Russland abhängen. Der bilaterale Handelsumsatz betrug im vergangenen Jahr 76 Mrd. Euro. Bei den Energieressourcen sind wir voneinander abhängig.

Wir wissen, dass die Sanktionen, die nicht von Deutschland, sondern nach einer äußerst schwierigen internen Abstimmung von der Europäischen Union verhängt wurden, uns selbst schaden. Aber die Vertreter der deutschen Industrie, die uns darauf hinwiesen, haben gleichzeitig die Priorität der Politik anerkannt. Wir haben wirtschaftliche und industrielle Interessen, aber die Politik muss die erste Geige spielen. Denn es geht doch um grundlegende Dinge bis hin zum Frieden in Europa: Wie geht es weiter, wenn Vereinbarungen verletzt werden, einzelne Gebiete annektiert werden, Unruhen in ein Land getragen werden? Das ist ein so schwerwiegendes Thema, dass Wirtschaftsinteressen zurückstehen müssen.

Galina Dudina: In welchem Fall ist Europa bereit, die Sanktionen auszusetzen.

Gernot Erler: Wenn Russland real bestrebt ist, Schritt für Schritt die Vereinbarungen, die es selbst unterzeichnet hat, zu erfüllen, wird es keine neuen Sanktionen geben.

Aber wir haben bereits negative Erfahrungen. Auch die Politiker, darunter Kanzlerin Merkel, die immer darum gekämpft hat, dass wir Sanktionen nicht voreilig verhängen, zeigen sich enttäuscht, was sich auch in der Sprache ihrer Auftritte ausdrückt.

Wir hoffen, dass Russland versteht, dass die Sache ernst ist. Wenn die Umsetzung der Vereinbarungen nicht aktiv befördert wird, wird dies neue Sanktionen zur Folge haben.

Galina Dudina: Haben Sie darüber bei Ihrem Besuch in Moskau gesprochen?

Gernot Erler: Ich bin mit zwei Abgeordnetenkollegen nach Moskau gekommen, um zu zeigen, dass wir den Dialog fortsetzen wollen und glauben, dass selbst gegensätzliche Auffassungen diskussionswürdig sind. Wir hatten ein sehr gutes, sachliches Gespräch mit dem stellvertretenden Außenminister Grigori Karassin, mit dem wir all die Fragen, von denen ich sprach, erörterten. Gleichzeitig bin ich enttäuscht darüber, dass wir auf unsere Gesprächsanfrage bei den Kollegen aus der russischen Staatsduma eine Absage erhalten haben.

Galina Dudina: Sie haben ein Treffen abgelehnt?

Gernot Erler: Ja. Ich konnte mit Andrej Klimow (stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für internationale Abgelegenheiten des Föderationsrates – Kommersant) sprechen, aber nicht mit Vertretern der Staatsduma. Das hat es noch nie gegeben: Früher haben wir uns immer mit Dumaabgeordneten getroffen, auch im März, als die Ukraine-Krise schon in vollem Gange war, war ich in Moskau und habe mit den Kollegen aus der Duma gesprochen. Jetzt ist dies plötzlich nicht mehr möglich. Wenn russische Abgeordnete nach Deutschland kommen, habe ich noch nie die Türen vor ihnen verschlossen, und diese Türen bleiben auch weiterhin offen. Ich hoffe, dass das nicht das letzte Wort der Duma ist. Aber es ist ein schlechtes Zeichen, ein Signal der Verschärfung der Situation und dessen, dass einige bezüglich der gegenwärtigen Lage unvernünftig sind, dass sie Angst haben, mit der anderen Seite zusammenzuarbeiten.

Galina Dudina: Als Russlandexperte sprechen Sie fließend Russisch und kennen Russland besser als viele europäische Politiker. Wie erklären Sie sich aus dieser Sicht die derzeitigen Geschehnisse?

Gernot Erler: Die Stimmung und die Haltung (zu Russland – Kommersant) haben sich verändert, und dies nicht nur in Deutschland. Die Veränderungen machen besorgt, und es geht nicht nur um die Ukraine.

Was, wenn man in Russland davon zu reden anfängt, ob die 25 Millionen Russen im Ausland hinreichend geschützt sind? In Nordkasachstan, Estland, Lettland? Es ist nicht verwunderlich, dass diesen Ländern der Gedanke an den Schutz durch die NATO gekommen ist. Obwohl eine solche Gefahr unrealistisch erscheint, muss man nach einer Antwort darauf suchen. Wir haben, auch auf Wunsch Deutschlands, die Aufkündigung der Vereinbarungen zwischen Russland und der NATO (Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit – Kommersant) vermieden, aber schnelle Einsatzkräfte gegründet. Damit Länder, die eine Bedrohung empfinden, den Schutz der Allianz spüren. Das sagt viel über die Stimmungen, die auch in Deutschland herrschen. Viele fragen sich: Was passiert eigentlich in Russland? Und sie verstehen nicht, weshalb Russland jetzt mit seinem Verhalten die Zukunft unserer Beziehungen aufs Spiel setzt. Wenn man sich einmal bewusst macht, wie umfassend und dicht die kulturellen, historischen, ökonomischen und energiewirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland sind, versteht man, wie viel wir verlieren können.

Im Westen aber gibt es das Gefühl, dass die russische Führung jetzt andere Prioritäten hat, als die Partnerschaft zu erhalten. Wir stellen fest, dass die russische politische Elite bestrebt ist, den Westen und westliche Werte zu Gunsten „traditioneller“, „nichtdekadenter“ Werte zu negieren. Wir hören das nicht gern und verstehen nicht, was das bedeutet.

Eine der Grundlagen der Außenpolitik ist die Berechenbarkeit. Das ist ein Unterpfand für Vertrauen und Partnerschaft. Wir wissen aber nicht, wonach der russische Präsident in der Ostukraine strebt. Will er noch ein Gebiet anschließen? Den Konflikt einfrieren, wie in Transnistrien? Oder genügt ein Sonderstatus für die Regionen?

Oder ein andere Beispiel: Wir haben Sanktionen verhängt und Listen derer veröffentlicht, denen die Einreise in die EU verboten ist. Russland hat auch derartige Listen, aber wir kennen deren Inhalt nicht. Schließlich wurde der Europaabgeordneten Rebecca Harms die Einreise nach Moskau verwehrt. Das hätte mir auch passieren können. Wir fliegen nach Moskau und wissen nicht, ob man uns reinlässt.

Unser Ziel ist klar – die Umsetzung der Vereinbarungen von Minsk. Unklar ist, welches Ziel Russland verfolgt.

Galina Dudina: Russische Politiker haben mehrfach betont, dass sie eine Feuerpause und eine Stabilisierung der Situation in der Ukraine anstreben.

Gernot Erler: Ja, aber welches politische Ziel verfolgt Moskau? Warum erwähnt der Präsident in seiner Rede „Noworossija“? Ich kenne die Karte von Noworossija, auch die von Dugin (Aleksandr Dugin – Kommersant) vorgeschlagene, die aus 11 Gebieten von Charkow bis Odessa besteht. Geht es um dieses „Noworossija“? Oder nur um die Stärkung von Donezk und Lugansk?

Kanzlerin Merkel hat betont, dass wir bereit sind, so schnell als möglich zu partnerschaftlichen Beziehungen zu Russland zurückzukehren. Das ist eine ziemlich mutige Erklärung, bedenkt man, welche Stimmungen derzeit in Deutschland und der EU, besonders in einzelnen Ländern, herrschen. Wenn wir aber nicht wissen, wohin sich die russische Politik bewegt, wird es nicht klappen.

Galina Dudina: In Moskau beklagt man vor allem die Unberechenbarkeit der Politik der EU: Ein Entgegenkommen Russlands gehe, so sagt man, mit neuen Erweiterungsrunden der Sanktionen gegen Russland einher. Versteht man in Europa, dass dies in Moskau Enttäuschung hervorruft?

Gernot Erler: Leider hat es in den letzten Monaten einen Unterschied zwischen der offiziellen Position Russlands und den wirklichen Handlungen gegeben. Die russische Führung erklärte mehrfach, welche politische Lösung für diese Krise möglich wäre, die Lage hat sich aber immer wieder anders entwickelt. Es ist verständlich, dass sich die Haltung Russlands zur Ukraine wesentlich verändert hat, nachdem Präsident Poroschenko einer militärischen Lösung des Konflikts zuneigte und zum Angriff auf die Freischärler überging. Es zeigte sich dann, dass sowohl Russland als auch die Ukraine auf eine militärische Lösung setzten.

Jetzt gibt es Grundlagen dafür, die Lage zu ändern. Die Zeit verbaler Verkündigungen „Wir sind für dieses, wir sind für jenes“ ist vorbei. Jetzt müssen reale Schritte unternommen werden. In diesem Fall bin ich sicher, dass ein Stopp und eine Aufhebung der Sanktionen möglich sind. Wir wollen sie nicht: Wir wissen, dass wir uns selbst schaden und ich habe viele Geschäftsleute gehört, die mir das jeden Tag sagen. Je eher wir von den Sanktionen wegkommen, desto besser. Aber das hängt zuerst von den in Moskau getroffenen politischen Entscheidungen ab.