Gernot Erler in der 205. Sitzung des Deutschen Bundestages, 9. November 2012: Russland

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im heutigen Russland treffen wir auf politische Entwick­lungen, die nicht zueinander passen wollen. Am 14. Ok­tober wurden in fünf Föderationsgliederungen, nämlich in den Gebieten Amur, Belgorod, Brjansk, Nowgorod und Rjasan, Gouverneurswahlen abgehalten, und paral­lel werden in sechs Gebieten neue regionale Parlamente gewählt. Durchweg gewinnen bei den Gouverneurswah­len die Kandidaten der Kremlpartei Jedinaja Rossija, Einheitliches Russland, mit Ergebnissen zwischen 64 und 78 Prozent.

Die Partei der Macht setzt sich auch bei den sechs regionalen Parlamentswahlen durch, mit 44 bis 78 Pro­zent - als hätte es nie die Proteste in den großen Städten gegeben, als hätte nie der oppositionelle Blogger Alexej Nawalny genau diese Partei der Macht mit einem bösen Attribut belegt. Er hat sie nämlich als „partija zulikow i worow", als Partei der Gauner und Diebe, bezeichnet und damit bei den etwa 53 Millionen Internetnutzern in Russland fast den offiziellen Namen Einheitliches Russ­land verdrängt.

Schon bei der ersten Gelegenheit bestätigt sich also die Einschätzung von Analytikern, die immer davor ge­warnt haben, das real existierende Herrschaftsmonopol in der Russischen Föderation abzuschreiben, nachdem die Partei Einheitliches Russland bei den Duma-Wahlen im Dezember 2011 die Dreiviertelmehrheit, die sie bis dahin hatte, nicht mehr erreichen konnte und Wladimir Putin mit „nur" 63,6 Prozent zum Präsidenten gewählt wurde.

Eigentlich müsste man erwarten, dass solche Ergeb­nisse beruhigend wirken und in den Führungsetagen zu Gelassenheit ermutigen. Sie bestätigen ja obendrein, dass der Protest bisher Sache begrenzter Großstadtmili­eus war, aber nicht die Weiten des russischen Landes er­reicht hat. Aber wer dieser Logik folgt, muss erleben, dass von Gelassenheit keine Spur ist. Auf allen Ebenen wird der Protest eingeschüchtert. Es gibt Verhaftungen von oppositionellen Aktivisten und gerichtliche Ankla­gen gegen sie, die zu langjährigen Haftstrafen führen können. Grundlage dafür sind auch neue Gesetze, zum Beispiel zum Versammlungsrecht und zur öffentlichen Ordnung.

Massive Maßnahmen richten sich gegen einzelne Mitglieder der Partei Spravedlivaja Rossija, Gerechtes Russland. Ursprünglich war sie eine vom Kreml insze­nierte Neugründung. Aber während der Proteste wan­delte sich Gerechtes Russland immer mehr zu einer op­positionellen Kraft in der Staatsduma.

Dem dieser Fraktion angehörigen Abgeordneten Gennadij Gudkow wurde sein Duma-Mandat einfach entzogen, und seinem Unternehmen wurde die Existenz­grundlage genommen. Zu einem richtigen Skandalfall entwickelt sich derzeit die Anklage gegen den parlamen­tarischen Mitarbeiter Leonid Raswosschajew, ein Fall, mit dem sich sogar der Vorsitzende des Menschenrechts­rates, Michail Fedotow, beschäftigt. Offensichtlich geht es darum, seinen Arbeitgeber, den Gerechtes-Russland-Abgeordneten Ilja Ponomarjow, aus der Staatsduma zu drängen.

(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist entführt worden! Skandalös!)

- Ja, er ist entführt worden.

Traurige Berühmtheit hat auch das neue NGO-Gesetz erlangt, das alle zivilgesellschaftlichen Institutionen zwingt, aus dem Ausland kommende Mittel zu deklarie­ren und sich dabei selbst als Agenten des Auslands zu bekennen - ein durchsichtiges Verfahren; denn dadurch stehen die Verantwortlichen aller russischen NGOs, die für ihre Arbeit Unterstützungsmittel aus dem Ausland erhalten bzw. benötigen, schon mit einem Bein im Ge­fängnis. Gegen Auslandsagenten kann nämlich zu jedem beliebigen Zeitpunkt Anklage erhoben werden. Das Schuldeingeständnis liegt ja schon bereit.

Diese Auflistung, Kolleginnen und Kollegen, die kei­neswegs vollständig ist und zu der man das abschre­ckende Strafmaß gegen die Aktivistinnen der Gruppe Pussy Riot und andere Vorgänge hinzufügen könnte, zei­gen: Der Wieder-Präsident Wladimir Putin hat sich ge­gen einen Dialog mit der Opposition entschieden und da­mit viele Hoffnungen enttäuscht. Er hat sich entschieden für die Einschüchterung, die Kriminalisierung und die Zerstörung der Basisorganisationen der Opposition, zum Beispiel der Partei Gerechtes Russland; dafür steht die­ses Vorgehen.

Dabei kann der Kreml nicht mehr behaupten, es gebe ja gar keine legitimierten Ansprechpartner auf der ande­ren Seite. Bisher hatten wir es bei der russischen Opposi­tion tatsächlich mit einem kopflosen Konglomerat höchst unterschiedlicher Menschen und politischer Gruppen zu tun. Aber am 20./21. Oktober dieses Jahres wurde ein 45-köpfiger Koordinationsrat gewählt, in dem auch je fünf Vertreter der drei unterschiedlichen oppositionellen Hauptströmungen - der Linken, der Liberalen und der Nationalisten - Sitz und Stimme haben. Immer­hin haben sich mehr als 170 000 Wählerinnen und Wäh­ler für diesen Wahlgang registriert, über 81 000 haben dann tatsächlich teilgenommen, die meisten per Internet. Dabei haben sie dem bereits genannten Blogger Alexej Nawalny, dem Schriftsteller Dmitri Bykow und dem ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow die meisten Stimmen gegeben.

Wir können also feststellen: Dieselbe Machtstruktur, die während der beiden Wahlakte bestimmte Schwächen zeigte und der im Aufbau befindlichen Opposition da­mals einige Zugeständnisse einräumte, so beim Parteien- und Wahlrecht, interpretiert die wiedergewonnene Posi­tion heute als Aufforderung, der Opposition die Luft zum Atmen zu nehmen. Ich glaube, in diesem Hohen Hause gibt es einen breiten Konsens, dass dies ein ver­hängnisvoller Irrtum ist. Ein Russland, das die noch junge, sich formierende parlamentarische und außerpar­lamentarische Opposition einzuschüchtern oder gar zu kriminalisieren versucht, wird es nicht schaffen, den breiten Diskurs bzw. Dialog über die richtigen Entwick­lungswege des Landes in die Zukunft sicherzustellen, den Russland dringend braucht.

Das jetzige Vorgehen wird eine doppelte Wirkung ha­ben. Die einen werden resignieren und sich zurückzie­hen. Ein anderer Teil wird sich radikalisieren und immer wieder für Schlagzeilen sorgen, die Russlands Image im Ausland beeinträchtigen werden. Auf jeden Fall wird ein solcher Prozess Russlands Weg in die Moderne verlän­gern, einen Weg, bei dem man ohne umfassende Refor­men und ohne eine Offenheit in der Gesellschaft lange und gefährliche Umwege einkalkulieren muss.

Wie sollten wir uns verhalten? Längst ist erwiesen: Der bis zur Ermüdung erhobene drohende Zeigefinger bringt uns nicht weiter. Im besten Fall provoziert er, dass kritische Gegenfragen gestellt werden. Dazu gibt es überall - auch bei uns - Anlass. Im schlechtesten Fall wird die Tür zugeschlagen. Dies hätte negative Folgen, unter anderem für das 2007 vom damaligen Außen­minister Frank-Walter Steinmeier formulierte Angebot der Modernisierungspartnerschaft. Dieses Angebot be­schränkte sich nie auf Kooperation allein auf dem Gebiet von Wirtschaft und Hightech. Es ist und bleibt ein offe­nes Angebot, das sich auf alle Fragen moderner Admi­nistration, auf Rechtsstaatlichkeit und Governance und auch auf die Nutzung zivilgesellschaftlicher Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung in einem Land bezieht, das globale Verantwortung anerkennt und übernimmt.

Der kritische Kommentar zu gesellschaftlichen Fehl­entwicklungen in der Russischen Föderation erzwingt aus unserer Sicht keineswegs den erhobenen Zeigefin­ger, sondern lässt sich auch mit der ausgestreckten Hand und mit einem strukturierten Meinungsaustausch auf gleicher Augenhöhe verbinden. Genau das wollte das Angebot der Modernisierungspartnerschaft von Anfang an.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)