Gernot Erler in der 194. Sitzung des Deutschen Bundestages, 26. September 2012: Aktuelle Stunde. Besorgnis über die Parlamentswahlen in Weißrussland

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganz offensichtlich haben wir in diesem Hohen Haus einen breiten Konsens darüber, dass die Wahlen in Belarus eine Farce und eine Provokation für ganz Europa waren. Die internationalen Standards für freie und faire Wahlen sind nicht nur nicht eingehalten worden. Präsident Lukaschenko hat sich auch gar keine Mühe mehr gegeben, den Anschein zu erwecken, dass sie eingehalten werden. Zu offensichtlich war es schon im Vorfeld zu gravierenden Verstößen gegen internationale Regeln gekommen. Die OSZE hat den Verlauf der Wahlen scharf kritisiert. Zahlreiche grundlegende demokratische Rechte wurden missachtet; zahlreiche Kandidaten wurden gar nicht erst zugelassen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde stark eingeschränkt. Auch die Überprüfung der Ergebnisse durch unabhängige Wahlbeobachter geben Anlass zu „ernsthafter Sorge"; ich zitiere den Leiter der internationalen Wahlbeobachterkommission, Antonio Milososki. Darüber hinaus bestehen Zweifel, ob tatsächlich die behauptete Wahlbeteiligung von 74,2 Prozent erreicht wurde. Einiges spricht dafür, dass noch nicht einmal eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent erreicht wurde. Dann wären die Wahlen auch nach den Gesetzen von Belarus ungültig.

Nach wie vor sitzen Vertreter der politischen Opposition im Gefängnis. Ich möchte den Fall von Nikolai Statkevich anführen, der bei den Präsidentschaftswahlen kandidiert hat. Jetzt befindet er sich für sechs Jahre im Arbeitslager, und im Januar dieses Jahres wurde das Strafmaß durch drei Jahre verschärfter Haft weiter zugespitzt. Ihm und allen anderen politischen Gefangenen, die in den Gefängnissen von Minsk sitzen, gilt unsere Solidarität. Wir fordern von diesem Hause aus die sofortige Freilassung von Nikolai Statkevich und allen anderen politischen  Gefangenen.

(Beifall im ganzen Hause)

Aber auch die Repressalien gegenüber Medien, Vertretern der Zivilgesellschaft und Oppositionellen dürfen nicht weiter anhalten; sie müssen aufhören. Man muss sich das einmal vorstellen: Die Nervosität dieser Regierung geht mittlerweile so weit, dass sogar - ich zitiere - „das organisierte Nichtstun in Gruppen" verboten wurde. Das Regime hat also Angst vor einer Ansammlung schweigender Menschen. Das ist eine weitere Steigerung, die man sich in der eigenen Fantasie eigentlich kaum vorstellen kann.

Selbstisolierung, das ist offenbar die Praxis dieser Regierung. Wir wollen aber keine Isolierung der 10 Millionen Bürgerinnen und Bürger von Weißrussland. Insofern begrüßen wir den Beschluss der EU-Außenminister vom März dieses Jahres, wenigstens die Visagebühren von 60 auf 35 Euro zu senken. Aber selbst dies scheint an bürokratischen Hindernissen zu scheitern. Das können wir nicht hinnehmen. Das geht so nicht. Herr Link, hier müssen wir etwas tun, und das kann nur der erste Schritt sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich sind wir realistisch und wissen, dass wir nur begrenzte Hebel haben, um auf die Politik in Belarus einzuwirken. Deswegen ist es sehr wichtig, dass noch einmal untersucht wird, welche Möglichkeiten zur Unterstützung einer kritischen Zivilgesellschaft wir haben. Herr Staatsminister Link, ich möchte Ihnen sagen: Meine Fraktion ist bereit, über die Unterstützung des Minsker Forums, das durchaus seinen Sinn hat, hinaus zu überlegen, wie wir, die Erfahrungen anderer Nachbarländer nutzend, die Unterstützung der Zivilgesellschaft in Belarus verstärken können; wir haben da nämlich ein paar Erfahrungen. Ich glaube, das sollten wir gemeinsam versuchen. Schließlich haben wir auch hier eine gemeinsame Diskussion geführt.

Auch ich habe große Zweifel daran, dass es sinnvoll ist, jetzt als einzige offizielle Reaktion die Sanktionen zu verschärfen und die Visabannlisten auszuweiten. Wie wir alle wissen, würde dies dazu führen, dass sich die weißrussische Politik immer mehr in Richtung Russland ausrichtet. Wir wissen auch, dass nur die großzügigen Kredite und die kostenlosen Lieferungen aus Russland verhindert haben, dass sich der Widerstand im Land angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung verstärkt. Nur so konnte das Regime am Leben gehalten werden. Ich finde, die Botschaft dieser Debatte sollte lauten: Der Weg in Richtung europäischer Annäherung steht den 10 Millionen Bürgerinnen und Bürgern von Belarus weiterhin offen. Wir wollen ihn gemeinsam gehen. Dabei spielt insbesondere die Östliche Partnerschaft eine wichtige Rolle. Unter dem jetzigen Regime können hier aber keine Fortschritte erzielt werden. Unsere Botschaft lautet: Wir suchen nach Wegen, um sicherzustellen, dass diese Tür offen bleibt, auch wenn Herr Lukaschenko und seine Nomenklatura sie mit aller Kraft zuzuziehen versuchen. Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)