Gernot Erler in der 178. Sitzung des Deutschen Bundestages, 10. Mai 2012: Fortsetzung Atalanta

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon in der Debatte vom 26. April bei der ersten Bera­tung zu diesem Mandat haben wir von der Regierungs­seite gehört, es gebe ein großes Interesse daran, den Konsens über die Mission Atalanta möglichst breit auf­rechtzuerhalten. Ich stelle fest: Diese Behauptung ist in keiner Weise glaubwürdig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auf jeden Fall haben Sie alles getan, um uns eine Zustimmung zu dem geänderten Mandat unmöglich zu machen. Ich nenne einige Punkte.

Erstens. Sie haben vor der Vorlage des Mandats un­sere früh geäußerten Bedenken einfach weggewischt und keine Beteiligung der Opposition gesucht.

Zweitens. Sie haben völlig ohne Not das komplette Atalanta-Mandat, das eigentlich bis Ende dieses Jahres Gültigkeit hat, mit der entsprechenden Erweiterung neu zur Abstimmung gestellt. Gleichzeitig spielen Sie die Bedeutung dieser Erweiterung herunter und sagen, sie enthalte qualitativ nichts Neues und stelle nur eine kleine zusätzliche Handlungsoption dar. Wenn das der Fall ist, wenn es eine Erweiterung von geringster Bedeutung ist, warum um Gottes willen lassen Sie dann im Bundestag fünf Monate später schon wieder über das volle Mandat abstimmen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Taktik ist durchschaubar. Das Kalkül ist, dass zum Beispiel die SPD-Fraktion, die im Dezember 2011 nahezu einstimmig für die Fortsetzung von Atalanta ge­stimmt hat, jetzt wegen einer solchen Kleinigkeit ihre Zustimmung wohl nicht versagen werde. Auf diese Klei­nigkeit komme ich noch zurück. Aber schon jetzt kann ich Ihnen versichern: Dieses Kalkül geht nicht auf. Wenn Sie nur über die Mandatserweiterung hätten abstimmen lassen, wäre es bei der wünschenswerten breiten Zustim­mung zum laufenden Atalanta-Mandat geblieben. Dafür, dass das jetzt nicht so bleibt, tragen Sie die alleinige Ver­antwortung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt noch einen dritten Punkt in Sachen Glaubwür­digkeit Ihres Wunsches nach breiter Unterstützung. Noch bevor wir unsere internen Beratungen abgeschlos­sen hatten, wurden wir mit der Unterstellung aus Ihren Reihen konfrontiert, die SPD nehme die nun anstehende Atalanta-Abstimmung zum Anlass, um sich insgesamt aus der Verantwortung für internationale Missionen zu verabschieden, nach dem Motto „erst Atalanta und dann Afghanistan", und das aus wahltaktischen Gründen. Nach all der Arbeit und dem Engagement, das wir in der Ver­gangenheit gerade in solchen Fällen investiert haben - ich erinnere an die großen Anstrengungen, die notwendig waren, um gemeinsam zu einem verbindlichen Fahrplan für Afghanistan zu kommen, und an die Tatsache, dass wir uns in der Öffentlichkeit zur Unterstützung der nun in Rede stehenden Mission bekannt haben, wohl wis­send, dass das unpopulär ist -, erfüllen Ihre Unterstellun­gen den Tatbestand der üblen Nachrede.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auf jeden Fall wird keiner behaupten können, das, was Sie gemacht haben, seien Bemühungen gewesen, den Konsens in Sachen Piratenbekämpfung vor der somali­schen Küste aufrechtzuerhalten.

Jetzt zur Mandatserweiterung. Herr Verteidigungs­minister, bei der ersten Lesung haben Sie hier die These aufgestellt - ich darf das wörtlich zitieren -: „Eine Op­tion mehr ist besser als eine Option weniger. So einfach ist das." Ich teile diese These nicht. Wenn das so einfach wäre: Warum ringen wir dann eigentlich bei jeder militä­rischen Mission im Ausland so intensiv um Details, bis hin zu den Rules of Engagement? Es gibt durchaus Op­tionen, die man besser nicht hat, und zwar dann nicht, wenn sie bestimmte Grenzüberschreitungen darstellen bzw. ermöglichen, die letztlich nicht zu mehr Erfolg, wohl aber zu mehr Risiko führen, oder wenn sie politi­sche Komplikationen heraufbeschwören, die wir nicht haben wollen. Deswegen ist es unsere Pflicht, jede zu­sätzliche Option genau zu prüfen und gegebenenfalls in­frage zu stellen.

Warum lehnen wir nun die zusätzliche Option, an Land befindliche Ausrüstung von Piraten aus der Luft zu zerstören, ab? Ich will mich hier auf zwei Gründe be­schränken. Diese Mandatserweiterung macht sich von Luftaufklärung abhängig und damit von deren Zuverläs­sigkeit. Ich frage Sie: Was muss eigentlich noch passie­ren, um bei Ihnen Zweifel an einer solchen Abhängigkeit aufkommen zu lassen? Haben Sie verdrängt, wie oft es in vergleichbaren Situationen zu tragischen und politisch verheerenden Fehlbeurteilungen gekommen ist? Wie oft ist das im Kosovo-Krieg der Fall gewesen, der allein aus der Luft geführt wurde? Wie war das in Afghanistan, wo manchmal - nicht nur einmal - Hochzeitsgesellschaften, bei denen Freudenschüsse in die Luft abgegeben wurden, mit Aufständischen verwechselt wurden? Offenbar haben Sie auch verdrängt, in welch tragische Verstri­ckung uns der Fall Kunduz gebracht hat, in dem es eine ähnliche Abhängigkeit von der Luftaufklärung gab.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Natürlich wissen wir, dass es nicht vorgesehen ist, Perso­nen aus der Luft anzugreifen. Aber wir weigern uns, die Erfahrungen zu verdrängen. Deswegen werden wir einer Missionserweiterung mit einer so gefährlichen einseiti­gen Abhängigkeit von der Luftaufklärung kein grünes Licht geben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt einen anderen, ebenso wichtigen Punkt. Bis­her hat die Bundesregierung den Anschein erweckt, je­der Einsatz von Bodentruppen im Rahmen des Atalanta-Mandats sei ausgeschlossen. Seit gestern wissen wir mehr. Kleinlaut musste die Bundesregierung zugeben, dass unter bestimmten Voraussetzungen einzelne Natio­nen durchaus Bodentruppen entsenden können, wenn auch formal nicht im Rahmen der Atalanta-Mission. Sollte es dabei zu irgendwelchen Komplikationen kom­men, glaubt doch keiner, dass dann die deutsche Selbst­beschränkung, das deutsche Caveat, noch hält. Dann sind wir mittendrin, ob wir wollen oder nicht. Das kann schon passieren, wenn ein Hubschrauber über Land in Not gerät, er notlanden und man dann die Besatzung ret­ten muss.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber das bedeutet, dass die Mandatserweiterung ge­nau zu diesen politischen Komplikationen führen kann, die wir unbedingt vermeiden wollen. Was wir am we­nigsten brauchen, ist eine Solidarisierung in Somalia mit den Piraten. Wir brauchen genau das Gegenteil. Was ist eigentlich, wenn die in eine solche Auseinandersetzung Verwickelten Schutz suchen, womöglich noch bei den Al-Schabab-Milizen?

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

Gerade nach dem, was wir gestern über mögliche Landoperationen anderer Staaten erfahren haben, sagen wir mit Nachdruck: Diese Mandatserweiterung führt zu begrenzten zusätzlichen Möglichkeiten bei der Piratenbekämpfung, immer vorausgesetzt, dass die Piraten nicht lernfähig sind, aber zu entgrenzten Risiken, was unsere Ziele in Somalia angeht. Um es ganz klar zu sagen: Die SPD steht weiter voll hinter der bisherigen, laufenden Atalanta-Mission, aber wir sind nicht bereit, zu einem solchen unverantwortlichen Schritt unsere Zustimmung zu geben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wohl aber - und damit möchte ich schließen - sind wir bereit und warten darauf, mit Ihnen über andere Ini­tiativen zu reden. Wir müssen endlich verhindern, dass gerade festgesetzte Piraten an Land postwendend wieder freigelassen werden, weil es immer noch keine interna­tionale Strafverfolgungsmöglichkeit gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf von der CDU/CSU: Wir sind dabei!)

- Ja, aber es geht nicht vorwärts. - Es muss auch gelin­gen, mehr als bisher dem gar nicht in Somalia ansässigen Pirateriegeschäft auf die Fersen zu kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Noch immer reichen die internationalen Bemühungen nicht aus, Somalia, diesen geschundenen, gescheiterten Staat, endlich zu befrieden und dort Staatlichkeit und Ordnung wieder herzustellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dafür lohnen sich zusätzliche Anstrengungen, und das sind unsere Vorschläge für sinnvolle zusätzliche Bemü­hungen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)