Das Stillhalteabkommen mit den Bürgern ist zerbrochen

Gastartikel im Handelblatt vom 6. März 2012

Putin hat die Wahlen noch einmal gewonnen, doch die Macht entgleitet ihm. Der Westen sollte diesen Wandel durch Annäherung fördern.

Wladimir Putin ist mit über 63,6 Prozent im ersten Wahlgang gewählt worden. Das ist keine Überraschung, aber 2004, bei seiner zweiten Wahl ins Präsidentenamt, erhielt er noch 71,3 Prozent. Also ein vertrautes Gesicht zurück im Kreml, nur mit reduzierter Zustimmung des Volkes?

Nein. Manchmal ändern Wahlen etwas. Manchmal passiert das aber schon vor dem Wahltag wie jetzt in Russland. Hier ist nach der Dumawahl vom 4. Dezember 2011 nicht nur plötzlich eine Protestbewegung entstanden, sie hat auch viel mehr erreicht als erwartet: Massendemonstrationen werden genehmigt, die Führung bietet Reformen an, in großer Zahl werden in Crashkursen ausgebildete Wahlbeobachter zugelassen - am Wahlsonntag sollen es 27 000 gewesen sein-, und Oppositionsvertreter kommen zeitweise im Staatsfernsehen zu Wort.

Und vor allem: Die Angst ist weg! Man darf nicht nur die Korruption geißeln und faire Wahlen einfordern, sondern auch die Parole "Russland ohne Putin!" offen präsentieren und den Wieder-Präsidenten mit Spott übergießen. Wer fürchtet sich vorm starken Mann? Niemand. Das ist ein halber "regime change".

Der Blogger Alexej Nawalnyj hatte schon auf dem Weg zur Dumawahl die Kreml-Partei "Einheitliches Russland" umgetauft. Sein Namensvorschlag "Partija Zulikow i worow" (Partei der Gauner und Diebe) setzte sich über alle neun Zeitzonen der Russischen Föderation durch. Als Wladimir Putin im Wahlkampf immer mehr Wohltaten ankündigte, erfand Nawalnyj auch für ihn einen Namen und nannte ihn "Objescalkin" (Oberversprecher).

Kontrollverluste gab es auch im Wahlkampf. Putins Deal mit den Bürgern - "Ich sorge für Stabilität und Prosperität, ihr haltet euch dafür raus aus der Politik" - ist zerbrochen. Das Publikum mischt sich ein, lustvoll und mit Wut im Bauch. Die Wut entzündete sich an der Rochade vom 24. September 2011 - Putins gravierendste Fehleinschätzung seines bisherigen politischen Lebens. Die Kreml-Partei "Jedinaja Rossija" dümpelte im Wahlkampf dahin. Da sollte eine frohe Botschaft helfen: Der eigentlich starke Mann wird wieder Präsident, wie es mit dem blassen Amtsinhaber Medwedjew schon vor Jahren verabredet worden sei. Eine Botschaft, zwei Reaktionen: Wozu dann eigentlich noch Wahlen? Und dann war ja wohl das große Reform- und Modernisierungstheater Medwedjews nur eine Beschäftigungstherapie des Platzhalters.

Jetzt musste Putin nicht nur Massenaufmärsche gegen seine Person genehmigen, Reformen versprechen und eine bessere Kontrolle der Präsidentenwahlen zulassen er musste auch plötzlich Wahlkampf machen, vieles war Routine: wohlorganisierte Pro-Demos, programmatische Botschaften im Tagestakt, Versprechungen aller Art. Aber die Proteste zeigen Wirkung beim starken Mann.

Putin sucht Beistand und findet ihn bei den "Gespenstern der Vergangenheit": Er beschwört das von ihm beendete Chaos der Jelzin-Tage, malt an der politischen Schlachtenszene "Wir gegen den Rest der Welt" und greift sogar zu den Mythen des Zweiten Weltkriegs zur Mobilisierung seiner entgeisterten Zuhörer.

Es hat noch einmal gereicht. Auch weil das Gemeinsame der Opposition über die Forderung fairer Wahlen und die Losung "Russland ohne Putin" nicht hinauskam. Und weil es vier Mitbewerber gab, die sich den Nicht-Putin-Kuchen aufteilen mussten und dabei keinerlei eigene Strahlkraft entwickelten. Aber auch deshalb, weil es traditionell zwei Russlands gibt: das kleinere der urbanen Zentren mit ihrer weltoffenen und gebildeten Mittelschicht, das weitere mit jener stabilitätsorientierten Mehrheit, die sich aus schlechter Erfahrung heraus mit einer Absicherung des Status quo zufriedengibt. Diese zentrumsferne Mehrheit hat Putin mit seinen Retro-Strategien noch einmal erreicht. Ein Erfolg ohne Glanz und Perspektive.

Aber gerade die Begrenztheit des Erfolgs birgt Gefahren. Sie vergrößert die Versuchung, eine neue Machtkonsolidierung über eine dramatisierte Auseinandersetzung mit dem Westen zu suchen. Die Spur dafür ist schon gelegt - mit dem Moskauer Selbstisolierungskurs in Sachen Syrien, mit der Schaukelei bezüglich der Atompolitik Irans und der Entschlossenheit, die Raketenabwehrfrage zum Lackmustest für jede künftige politische Partnerschaft mit den USA und Europa zu machen.

Das ist ein zusätzlicher Grund, in jedem Fall auch in Zukunft eine Politik der ausgestreckten Hand gegenüber Moskau aufrechtzuerhalten. Gemeinsame globale Verantwortung, strategische Partnerschaft, Wandel durch wirtschaftliche Verflechtung und Modernisierungspartnerschaft, die ausdrücklich gesellschaftliche Reformen und den Aufbau einer starken Zivilgesellschaft einschließt - das sind die Bausteine, mit denen ein neues Stabilitäts- und Fortschrittsgebäude errichtet werden kann.