Erler: Es gibt eine Parallele zum Arabischen Frühling

Interview zu Russland im Tagesanzeiger, 21. Februar 2012

Mit Gernot Erler sprachen Luciano Ferrari und David Nauer in Freiburg im Breisgau

Sie kommen gerade aus Moskau zurück. Was ist Ihr Eindruck: Wie populär ist Wladimir Putin noch?

Ich habe eine geteilte Welt erlebt. Ich habe mit Vertretern der Protestbewegung gesprochen, mit Bloggern, Journalisten und Oppositionellen, aber auch mit Vertretern des Putin-Lagers. Die ersten sagen: «Putins Zeit ist vorbei. Der Einzige, der es noch nicht gemerkt hat, ist Putin selber.» Diese Gruppe ist sehr gelassen und sagt:  «Es kann schon sein, dass Putin noch einmal die Wahlen gewinnt, es ist aber trotzdem vorbei, er wird scheitern.» Die anderen sind genau so gelassen und sagen: «Immer mit der Ruhe, Putin hat die Mehrheit hinter sich. Wir lassen uns nicht ins Bockshorn jagen von einer Protestbewegung, die keinen Führer und keine konkreten politischen Ziele hat. Putin wird gewinnen und das Land weiter führen.»

Welche Seite hat eher Recht?

Realpolitisch betrachtet, das zweite Lager. Putin wird die Wahlen gewinnen. Selbst dass es einen zweiten Wahlgang braucht ist eher unwahrscheinlich, denn die Einschätzung der Putin-Befürworter stimmt, dass das Oppositionslager völlig gespalten ist und auch gar nicht versucht hat, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu verständigen.

Noch vor wenigen Jahren wären grosse, bewilligte Demonstrationen gegen das Regime undenkbar gewesen. Wieso gehen plötzlich Zehntausende auf die Strasse - und wieso lässt Putin diese Proteste zu?

Das ist schwer zu beantworten. Entscheidend war wohl der 24. September des letzten Jahres. Das ist ein Schlüsseldatum. An diesem Tag kündigten Putin und Medwedew ihre Ämterrochade an. Hinter dieser Entscheidung stand in meinen Augen eine katastrophale Fehleinschätzung, die alle weiteren Entwicklungen erklärt. Putin wusste zu diesem Zeitpunkt schon um die Schwächen der Kreml-Partei «Einiges Russland». Er hat gedacht, er könne durch die angekündigte Rochade alles wieder gerade biegen auf Grund seiner Autorität und seines Ansehens. Er hat überhaupt nicht eingerechnet, dass das ganze als Komödie wirken könnte, als etwas, das die Leute zum Lachen bringt, weil jede halbwegs offene, demokratische Situation auf diese Weise zugeschüttet wurde.

Wie war diese Fehlleistung möglich?

Putin versteht den Wechsel der Zeit nicht. Er versteht nicht, dass die Erwartungen sich geändert haben, dass die Bedürfnisse andere geworden sind. Die Entwicklung der Welt läuft nicht zu Gunsten Russlands. Das Land schafft es nicht, bei einer Kältewelle in Russland und Europa die Lieferverpflichtungen für Gas zu erfüllen. Es produziert jedes Jahr weniger Öl und Gas. Das sind Daten, die auch in Russland bei den Eliten herumgereicht werden. Darauf hat Putin keine Antwort. Medwedew hatte diese Defizite in den Mittelpunkt seiner Konzepte gestellt, auch wenn er sie nicht umsetzen konnte. Er hatte eine Diversifizierung der Wirtschaft gefordert, eine Modernisierung, eine Stärkung der Zivilgesellschaft und eine Politik, in der um Antworten wirklich gerungen wird, um die besten zu finden. Das sind relativ einfache Prinzipien, die aber in Russland noch nicht gelten. Daran wird diese Gesellschaft letztlich scheitern, wenn sich nichts ändert. Das ist die eigentliche Fragestellung. Doch Putin beschwört noch einmal das Chaos der Jelzin-Zeit.

Wie äussert sich das?

Er rekurriert in seinem Wahlkampf auf seine alten Verdienste und sagt: «Ich stehe für Stabilität. Wir machen es noch einmal wie im Jahr 2000». Doch dieses Stabilitäts-Angebot ist rückwärtsgewandt. Das ist ein Fehler, den manchmal auch demokratische Politiker machen, wenn sie glauben, sie müssten für ihre Verdienste in der Vergangenheit gewählt werden. In Wirklichkeit entscheiden die Wähler über die Zukunftsangebote. Putin hat aber kein attraktives Zukunftsangebot. Er gibt den Russen zu verstehen: «Medwedew war eine schwache Figur, jetzt kommt wieder ein starker Mann dran und dann wird alles besser.» Aber dahinter stecken nichts als inhaltsleere Stabilitätsversprechen.

Wird ihm denn nicht mehr zugebilligt, dass er nach den wilden Jelzin-Jahren für Stabilität sorgte?

Doch, sogar die Oppositionspolitiker räumen ein, dass er im Jahr 2000 der richtige Mann gewesen ist. Wir im Westen haben uns damals gefreut über die grossen Demokratisierungs- und Privatisierungsschritte von Jelzin. Die Bevölkerung in Russland aber hat das als Destabilisierung, als Auflösung des Zentrums, als Zerfall des Landes und Verlust ihrer sozialen Sicherheit empfunden. Putin hat mit all dem Schluss gemacht, er hat die Löhne wieder gezahlt, er hat die Oligarchen in die Schranken gewiesen, hat das Zentrum wieder stark gemacht und dem Zerfall Russlands Paroli geboten, einschliesslich Tschetschenien. Der grosse Fehler vom 24. September war aber die Erwartung, dass die Russen alle nur darauf warteten, dass Putin wieder kommt. Das stimmt zumindest für die Mittelklasse, die politisch bewussten und aktiven Schichten, nicht. Hier wurde die Ankündigung der Rochade als Provokation aufgefasst.

Wie gross ist diese Mittelschicht?

Analytiker gehen davon aus, dass sie etwa 20 Prozent der Gesellschaft ausmacht. Interessant ist, dass sich 40 Prozent der Russen selbst zur Mittelschicht zählen. Wie auch immer: Es ist immer noch eine Minderheit.

Allerdings eine Minderheit mit Geld und Einfluss, die sich ganz neuer Technologien bedient.

Ja, wobei hier eine interessante Parallele zum arabischen Frühling besteht. Denn ähnlich wie die arabischen Machthaber, hat auch der Kreml die Verselbstständigung der Blogger- und Internet-Szene falsch eingeschätzt. Das zeigt sich etwa an der erstaunlichen Popularität des Bloggers Aleksej Nawalni. Das ist ein scharfer Typ, der einfach mal den Begriff «Partei der Strolche und Diebe» für die Kreml-Partei «Einiges Russland» erfunden hat. Und heute: Egal wo man hinkommt, jeder benutzt diese Bezeichnung für «Einiges Russland». Das muss man sich mal vorstellen. Da sind verschiedene Leute, Journalisten, Blogger, die eigentlich keine reale Macht haben, die aber in der Internet-Szene hoch geachtet sind und deshalb über grossen Einfluss verfügen. Da alles übers Internet läuft, sind sie nicht auf die offiziellen Medien angewiesen und deshalb kaum zu kontrollieren. Diese beiden Dinge zusammen, die Frustration des Mittelstandes, der mehr will als nur Stabilität, und die Aktivität der jungen Szene, die sich der Kontrolle entzieht: Aus diesem Gemisch nährt sich die Protestbewegung.

Was fordert sie konkret?

Der Ausgangspunkt war die Empörung über die gefälschten Parlamentswahlen. Die naheliegende Forderung ist deshalb jene, nach fairen und transparenten Wahlen. Der Mittelstand verlangt darüber hinaus aber auch eine Modernisierung des Landes und zwar in allen Bereichen, politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Diese Mittelschicht ist der Überzeugung, dass ohne die Umsetzung der Reformen, die der scheidende Präsident Dmitri Medwedew ja selbst in Aussicht gestellt hat, Russland nicht vorankommen und konkurrenzfähig wird. In ihren Alltagserfahrungen stossen sie auf diese ständige Korruption, die das ganze Wirtschaftsleben zerstört; auf die unglaublichen bürokratischen Hemmnisse, die alles blockieren. Diese Mittelklasse steht im Kontakt mit anderen, freieren Gesellschaften und sieht das Fehlen eines Diskurses über den Kurs des Landes.

Die Leute fühlen sich doppelt betrogen, weil Medwedew viel versprochen hat - und jetzt doch wieder Putin kommt? Wieso hat Medwedew Putin nicht herausgefordert?

Das muss kurzfristige entschieden worden sein. Es kann sogar eine Rolle gespielt haben, dass man eben um das schlechte Image von «Einiges Russland» wusste und befürchtete, man würde die absolute Mehrheit verlieren, was dann ja auch passiert ist. Da konnte Putin wohl mit gutem Grund zu Medwedew sagen: «Du, das wird knapp, wir müssen etwas tun, um den Laden zu stabilisieren.» Putin war überzeugt, er könne in den Ring steigen und alle würden begeistert applaudieren. Es kam alles anders, wie bei diesem Boxkampf im Moskauer «Olimpiski-Stadion», wo Putin nach einem Boxkampf zwischen einem Russen und einem Amerikaner, der Russe hatte natürlich gewonnen, in den Ring sprang - und plötzlich ausgebuht wurde. Das ist ein Schlüsselmoment, der den Irrtum Putins illustriert.

Eskaliert der Konflikt mit der Opposition nach der Wahl Putins?

Die Proteste werden nach dem 4. März weiter gehen. Schon weil es zu keiner fairen Wahl kommen wird. Die Vorgaben an die Gouverneure und Fabrik-Chefs sind längst erteilt. Die ihnen unterstellten Kollektive wurden darauf verpflichtet: Entweder ihr wählt Putin, oder ihr werdet entlassen. Das  kann keiner mehr stoppen. Selbst Putin nicht.

Rechnen Sie mit einem Ausbruch von Gewalt?

Da bin ich mir nicht so sicher. Die Regierung hat dazu gelernt. Die erste Reaktion auf die Demonstrationen unmittelbar nach den Parlamentswahlen vom 4. Dezember 2011 waren noch klassisch: Festnahmen, draufhauen. Von 150 Demonstranten sind sofort 100 einkassiert worden, die Anführer haben 15-tägige Haftstrafen bekommen. Dann aber kam die erste grosse Demonstration und die war ganz friedlich. Das System hat sofort registriert, dass es diesmal mit «wegverhaften» nicht mehr durchkommen würde.

Auch weil sich Zehntausende über Facebook angemeldet hatten.

Ja, und die kamen dann auch. Es kamen viele. Am 24. Dezember kam die zweite Demo, am 4. Februar die dritte, alles friedlich. Wobei das System auch hier gelernt hat: Bei der dritten gab es bereits eine Gegendemonstration. Das System könnte ja jederzeit Provokationen und Ausschreitungen organisieren, um dann zu sagen: «Wir müssen jetzt Ordnung schaffen, Russland ist in Gefahr.» Das Gegenteil ist eingetroffen: Jetzt werden die Demonstrationen auch am Fernsehen gezeigt, und selbst Oppositionelle dürfen auftreten und was sagen. Die Proteste werden ernst genommen. Das ist ein zivilisierter Vorgang. Meine Vermutung ist, Putin hat ein Interesse daran, dass es ruhig bleibt.

Weil er ein Szenario wie bei der Orangen Revolution in der Ukraine oder in der arabischen Welt befürchtet?

Nein, auch weil die Oppositionellen in Russland in längeren Zeiträumen denken. Sie wissen, dass sich das System nicht kurzfristig erledigen wird, aber sie glauben, dass die Entwicklung auf ihrer Seite ist. Sie sagen sich: «Putin wird es nicht in den Griff kriegen, weil er diese Modernisierung nicht hinkriegt. Er wird beim Ziel, Russland Konkurrenz- und zukunftsfähig zu machen scheitern.» Wann das passieren wird, ist eine offene Frage. Klar ist aber die unterschiedliche strategische Ausgangslage: Putin hat keine Zeit, seine Gegner haben Zeit. Denn er steht unter Druck, er muss am 4. März gewählt werden und dann steht er weiter unter Druck, zu liefern. Wenn er aber so wie bisher Politik betreibt - und vieles spricht dafür-, wenn er die Dringlichkeit von dem, was Medwedew nicht umsetzen konnte, nicht erkennt, dann wird er immer mehr unter Druck geraten. Die Opposition dagegen hat Zeit.

Bisher hat Putin in Krisen immer mit Härte reagiert - ob in der Ukraine, in Georgien, im Inland. Er hat noch nie nachgegeben. Was macht sie glauben, dass er diesmal bei der weichen Tour bleibt?

Zugegeben, er ist ein katastrophaler Krisenmanager. Ob beim Untergang des U-Bootes Kursk, beim Terroranschlag auf die Schule von Beslan, Putin hat stets reflexartig reagiert: Mehr Macht in die Zentrale, mehr Macht in seine Hände, weniger Machtverteilung und Checks und Balances. Alles war sehr wenig effektiv. Aber man muss auch zugeben: Nach Beginn der Demonstrationen im Dezember hat er sofort Reformen angekündigt, etwa die Volkswahl der Gouverneure, oder eine Änderung des Wahlgesetzes. Es handelt sich zwar nur um Ankündigungen, aber immerhin.

Wird uns Putin überraschen?

Das Risiko, dass seine Lernfähigkeit nicht ausreicht, ist gross. Ich bin aber vorsichtig, eine Prognose zu stellen,  denn er könnte ja auch von klugen Leuten den Rat kriegen, die Macht zu teilen und zum Beispiel Medwedew zum Ministerpräsidenten zu machen, um ihn die Reformen umsetzen zu lassen, die er als Präsident nicht machen konnte. Das ist nicht ausgeschlossen.