Erler legt Wulff den Rücktritt nahe

Interview im SWR-Tagesgespräch, 17. Februar 2012

Baden-Baden: Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, hat Bundespräsident Wulff den Rücktritt nahe gelegt. Im Südwestrundfunk (SWR) reagierte Erler auf die Frage nach Konsequenzen aus dem Antrag der Staatsanwaltschaft, Wulffs Immunität aufzuheben. Erler sagte, in Deutschland seien Politiker schon „aus weiß Gott geringerem Anlass" zurück getreten. Das Amt des Bundespräsidenten sei „inzwischen ein Problem für die ganze deutsche Politik, auch für das Ansehen von Politikern insgesamt" geworden. Deshalb sei zu hoffen, dass Christian Wulff sich auf seine „Verantwortung für das Ganze" besinne, und er „nicht weiter versucht, die Sache auszusitzen". Die theoretische Möglichkeit, dass der Immunitätsausschuss des Bundestages den Antrag der Staatsanwaltschaft ablehnen könnte, sei praktisch ausgeschlossen.

Wortlaut des Live-Gesprächs:

Geissler: Auch wenn wir zum Thema Syrien verabredet sind, muss die erste Frage in einem politischen Interview in Deutschland heute Morgen der Eilmeldung von gestern Abend gelten, dem Antrag der Hannoveraner Staatsanwaltschaft, die Immunität des Bundespräsidenten aufzuheben. Ist allein das wirklich schon Grund in Ihren Augen, dass Herr Wulff zurücktreten sollte, wie einige verlangen, oder würde er damit seine bisherige Unschuldsüberzeugung nicht geradezu untergraben?

Erler: Also, jeder Politiker hat auch eine Verantwortung für das Ganze, und wir haben in Deutschland viele Beispiele, wo aus weiß Gott geringerem Anlass Politiker zurückgetreten sind, weil sie die Verantwortung übernommen haben auch für etwas, was in der eigenen Umgebung passiert ist. Und da ist ja einiges passiert bei Herrn Wulff, und insofern kann man nur hoffen, dass er sich darauf besinnt, dass er auch eine Verantwortung für das Ganze hat. Und das Amt ist beschädigt, dass Amt ist inzwischen ein Problem für die ganze deutsche Politik, auch für das Ansehen von Politikern insgesamt, quer durch alle Parteien. Und insofern kann man nur hoffen, dass er nicht weiter versucht, die Sache auszusitzen.

Geissler: Theoretisch besteht ja die Möglichkeit, dass der Immunitätsausschuss dem Antrag der Staatsanwaltschaft gar nicht stattgibt und die Immunität nicht aufhebt - mit der Mehrheit von Union und FDP könnte das theoretisch, wie gesagt, geschehen. Angenommen, Herr Wulff wartet noch bis zu dieser Entscheidung. Für wie wahrscheinlich halten Sie, dass im Ausschuss zu seinen Gunsten entschieden würde?

Erler: Nein, das halte ich für sehr unwahrscheinlich, denn ich glaube so, wie ich das eben ausgedrückt habe, denkt die Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag. Und ich glaube, dass diese Verantwortung für das Ganze dazu führen wird, also das Gefühl dafür, dass es da nicht etwa eine Mehrheitsentscheidung zur Ablehnung dieses Antrags gibt.

Geissler: Gut. Dann kommen wir zu unserem außenpolitischen Thema. Die UNO-Vollversammlung hat gestern mit breiter Mehrheit für die Syrien-Resolution gestimmt, für ein Ende der Gewalt und für demokratische Reformen. Aber eben die Generalversammlung ist nicht der UNO-Sicherheitsrat, der Ausgang der Abstimmung führt nicht zwangsläufig zu Sanktionen. Welche Wirkung ist dann von diesem Votum zu erwarten?

Erler: Das ist ein sehr klares politisches Signal an Damaskus. Es haben 166 Staaten abgestimmt. 137 davon haben für die Resolution gestimmt. Es gab nur 12 Nein-Stimmen und 17 Enthaltungen. Und die wichtigsten Staaten bei den Nein-Stimmen waren Russland, Nordkorea und Venezuela, eine interessante Zusammenstellung. Das ist ein sehr starkes politisches Signal, mehr leider auch nicht. Denn vor 13 Tagen ist ja eine ähnliche Resolution, die bindenden Charakter hätte, im Sicherheitsrat an dem Veto von Russland und China gescheitert.

Geissler: Und wir wissen auch, dass in der UNO-Generalsversammlung eine ganze Menge Staaten Platz haben, die für sich selbst genommen den großen moralischen Ansprüchen von Resolutionen ja wenig genügen.

Erler: Das ist richtig.

Geissler: Wenn ich nur einmal daran denke, dass diese Resolution ja hier für demokratische Reformen in Syrien ausgerechnet von Saudi-Arabien eingebracht wurde. Druck von dieser Seite, denken Sie, dass Moskau den besonders ernst nimmt?

Erler: Ja, das muss Moskau ernst nehmen. Ich meine, es ist richtig, dass die wichtigsten Partner von Moskau in der arabischen Welt eben gerade Syrien und dann eben auch Iran sind. Aber Moskau muss, die russische Politik muss ein Interesse daran haben, dass erstens einmal das Land nicht völlig isoliert wird und zweitens, dass eben die arabische Welt nicht frustriert ist über Russland. Denn es gibt natürlich auch Handelsbeziehungen, es gibt natürlich auch politische Beziehungen zu anderen arabischen Staaten. Und wir haben ja interessanter Weise in den letzten Tagen erlebt und in den letzten Wochen, dass die Arabische Liga auf einmal wirklich ein ernst zu nehmender politischer Faktor wird. Dass sie auftritt, dass sie handelt. Sie hat verschiedene Vorschläge gemacht in dieser Krise.

Geissler: Und in der Generalversammlung haben die arabischen Länder ja früher eigentlich nur wie ein Mann zusammengestanden, wenn es um die Schwächung Israels gegangen ist. Eigentlich nie, wenn einer der ihren sozusagen, am Pranger stand. Warum ist dieser traditionelle arabische Zusammenhalt jetzt im Falle Syriens so in das Rutschen gekommen? Was meinen Sie?

Erler: Naja, also es ist ein neuer Zusammenhalt. Es ist doch so, dass die Arabische Liga Schritt für Schritt mehr Verantwortung für die Region nimmt. Das ist eine - mal ganz unabhängig von Syrien gesehen -, eine ganz positive, eine konstruktive Entwicklung. Auf der ganzen Welt hoffen wir, dass so etwas passiert. Zum Beispiel, dass die afrikanische Union noch stärker wird, um Probleme in Afrika zu lösen. Denn wir stehen ja auch, das darf man ja auch nicht vergessen, im Grunde genommen vor großen Problemen bei dem bisherigen Konzept, dass eben notfalls bei einem Konflikt von westlicher Seite eingegriffen wird.