Gernot Erler in der 149. Sitzung des Deutschen Bundestages, 15. Dezember 2011: Aktuelle Stunde - Demokratiebewegung in Russland

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

1919 hat der amerikanische Autor John Reed ein Buch veröffentlicht: „Ten Days that Shook the World", in der deutschen Übersetzung „Zehn Tage, die die Welt erschütterten". Dieser Titel ist zu einer Art Epitheton für die Oktoberrevolution von 1917 geworden. Aus der russischen Szene erreichen uns in diesen Tagen dramatische Nachrichten. Manche Kommentatoren erwecken den Eindruck, dass wieder eine solche Situation da ist.

Ich teile diese Einschätzung nicht, aber wenn überhaupt, dann könnte man vielleicht von „Sechs Tagen, die Russland verändern werden" sprechen. Dieses Buch müsste allerdings erst noch geschrieben werden. Es würde anfangen mit dem Wahlsonntag am 4. Dezember, als die Machtpartei Einiges Russland so viele Federn lassen musste: 15 Prozentpunkte weniger und der Verlust von 77 Mandaten, und das trotz der vielen Unregelmäßigkeiten vor allen Dingen vorher bei der Nutzung der sogenannten administrativen Ressourcen, über die berichtet wurde, trotz zahlreicher und konkreter Hinweise auf Unregelmäßigkeiten am Wahltag und beim Auszählungsprozess und trotz solcher Superergebnisse wie in Tschetschenien von über 90 Prozent, zu denen man sarkastischerweise seinen Dank dafür aussprechen muss, dass nicht über 100 Prozent gemeldet worden sind.

Es ließe sich fortsetzen mit den Tagen danach, in denen sich erwies, dass die Menschen in Russland, die solche Unregelmäßigkeiten beobachtet haben, diesmal nicht mehr bereit sind, ein solches Ergebnis hinzunehmen. Es waren erst nur wenige, die auf die Straße gingen, sich reihenweise verhaften ließen und Geld- und Arreststrafen hinnahmen,

(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau! Sie sind auch sehr verprügelt worden! Sie sind zum Teil noch in Haft!)

die aber weiter in den sozialen Netzwerken kommunizierten und sich zu der Demonstration am Samstag, dem 10. Dezember, verabredeten, für die erst nur 300 Teilnehmer gemeldet wurden. Aber dann begann über Facebook eine Anmeldewelle: erst 10 000, dann 20 000, 30 000, 40 000 und dann immer mehr. Dann passierte ein kleines Wunder. An anderer Stelle in Moskau wurde eine Demonstration mit 30 000 Teilnehmern zugelassen, und die 52 000 mobilisierten Polizisten wurden nicht gegen die Demonstranten eingesetzt, sondern zu einer Kontrolle des Ablaufs dieser Großveranstaltung. Die nächste große Protestversammlung - das ist schon mehrfach erwähnt worden - ist für den 24. Dezember, unseren Weihnachtstag, angemeldet, und es erfolgte schon die Einberufung einer Sondersitzung des Menschenrechtsrats beim Präsidenten für den 23. Dezember, um über diese ganzen Vorgänge zu beraten.

Dieses gar nicht so kleine Wunder in Moskau lässt vielleicht auf einen Lernprozess an der Spitze schließen. Ich finde, es wäre wünschenswert, wenn dieser stattfinden würde; denn ein solcher Lernprozess ist in der Tat überfällig.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Volk hat schon längst viel schneller gelernt!)

Für mich hat sich diese Notwendigkeit allerdings schon am 24. September gezeigt, als der Ämtertausch von Medwedew und Putin vereinbart wurde. Der geschah in der sicheren Annahme, dass das Publikum applaudieren würde. Das hat es aber nicht gemacht, im Gegenteil. Danach begannen Diskussionen, auch in der Öffentlichkeit, über zweimal sechs Jahre Sastoi, Stillstand, in der russischen Gesellschaft. Dann gab es noch diese Riesenpanne am 21. November bei dem Auftritt Putins in dem olympischen Sportcenter, als er einen Boxkampf für seinen Wahlkampf instrumentalisieren wollte und dafür viele Pfiffe hinnehmen musste.

Was für eine Fehleinschätzung, was für ein Realitätsverlust bei der Einschätzung gesellschaftlicher Stimmungen! Das ist eine Lektion in Sachen Demokratie und Stabilität. In der gelenkten Demokratie, in der Wahlen nicht als Seismografen für gesellschaftliche Meinungsbildung, sondern als bloße Herausforderung für entsprechende Machtapparate gesehen werden, gehen wichtige Signale und Informationen verloren. Wer diese Signale und Informationen einfach ignoriert, wirkt plötzlich ohne Bodenhaftung, geradezu ratlos und alles andere als Stabilität organisierend.

(Beifall der Abg. Franz Thönnes [SPD] und Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das ist die Lehre, die von diesen sechs Tagen eigentlich für die Führung ausgehen sollte. Nur über Demokratisierung kann eine nachhaltige Stabilisierung, an der bei vielen Nachbarn Russlands, aber auch in Russland selbst großes Interesse besteht, erreicht werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist unsere Aufgabe, durch unsere Angebote, vor allen Dingen über die Modernisierungspartnerschaft, genau diesen Lernprozess zu unterstützen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])

 Rede in der Mediathek des Deutschen Bundestags