Gernot Erler in der 149. Sitzung des Deutschen Bundestages, 15. Dezember 2011: Afghanistan

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die SPD hat im Jahr 2010 zwei große internationale Afghanistan-Konferenzen organisiert, mit Hunderten von Teilnehmern und mit konkreten Ergebnissen. Seitdem fordern wir einen Strategiewechsel vor Ort, der sich mit folgenden Stichworten beschreiben lässt: Nur eine politische Lösung, das bedeutet: ein innerafghanischer Versöhnungs- und Reintegrationsprozess, kann den Konflikt lösen. Die Sicherheitsverantwortung muss schrittweise an die Afghanen übergeben werden, was nur geht, wenn sich die internationale Gemeinschaft auf die Ausbildung von Polizisten und Soldaten konzentriert. Im Zuge des Übergabeprozesses, der bis 2014 abzuschließen ist, sollen bis Ende 2011 erste Reduktionen des Bundeswehrkontingents in Afghanistan eingeleitet sein.

Wo stehen wir heute? Es gibt die ersten Schritte des Übergangsprozesses, der Transition genannt wird. Seine Umsetzung scheint vorerst erfolgreich zu sein. Jedenfalls sorgen heute in den Provinzen Bamiyan, Pandschschir und Kabul sowie in den Städten Herat, Lashkar Gah, Mehtar Lam und Masar-i-Scharif afghanische Sicherheitskräfte für Ordnung und behaupten sich gegen zum Teil wütende Angriffe der Aufständischen.

In der Bundesregierung - das wissen wir - gab es erhebliche interne Auseinandersetzungen über das weitere Vorgehen. Das, Herr Minister, haben Sie hier, vielleicht wegen der heraufkommenden Weihnachtszeit, etwas anders dargestellt. Am Ende hat die Bundesregierung aber ein Mandat vorgelegt, das unseren Forderungen weitgehend entspricht: Schon zu Beginn des neuen Mandats im Januar 2012 soll die bisherige Obergrenze von 5 350 Kräften auf 4 900 herabgesetzt werden, bis zum nächsten Mandat weiter auf 4 400; Sie, Herr Minister, haben das eben bestätigt.

Die uns vorgelegten Zahlen belegen, dass der Prozess der Absenkung der Obergrenze bereits jetzt, zum Ende des Jahres 2011, praktisch vollzogen wird. Noch am 23. November betrug die Anzahl der vor Ort eingesetzten Kräfte 5 324; das war ziemlich haarscharf an der bisher geltenden Obergrenze. Das ist übrigens ein Beweis dafür, dass die Reserve von 350 Kräften zuletzt fast vollständig genutzt wurde. Doch schon am 7. Dezember waren nur noch 4 991 Bundeswehrkräfte vor Ort, womit die neue, abgesenkte Mandatsobergrenze schon fast erreicht ist. Die Truppenreduzierung ist also schon in vollem Gange, noch im Jahr 2011. Das Funktionieren der Transition macht dies möglich, und das neue Mandat trägt dieser Entwicklung mit den neuen Obergrenzen Rechnung.

Die endgültige Entscheidung fällt zwar erst im Januar; aber angesichts der von mir beschriebenen Entwicklung wird die SPD-Bundestagsfraktion diesem Mandat zustimmen können. Das heißt nicht, dass wir jetzt einem naiven Optimismus verfallen. Viele Sorgen bleiben, manche haben sich verstärkt. Ich will hier nur drei wichtige, auf die Transition bezogene Sorgen skizzieren:

Erstens. Die Transition kann an der mangelnden Ausbildung und an den lückenhaften Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte scheitern. Wir hören gerne, dass schon im Oktober dieses Jahres 305 600 afghanische Soldaten und Polizisten zur Verfügung standen und somit das Sollziel bis Oktober nächsten Jahres erreicht werden kann. Aber wir verfügen nur über vage Daten, was die Qualität und die Schwundquote und damit die Nachhaltigkeit der Einsatzfähigkeit dieser Kräfte angeht.

Man sollte keinen Tag vergessen, dass der eigentliche Härtetest noch bevorsteht; denn vorerst unterliegen - was auch Sinn macht - die eher ruhigen Gebiete der Übergabe, dieser Transition. Erst am 27. November hat Präsident Karzai die zweite Tranche für die Transition verkündet. Nicht unerwartet benennt er dort erneut Provinzen und Städte, die eher unter einem schwachen Druck der Aufständischen stehen. Aus dem deutschen Regionalkommando Nord gehören dazu die kompletten Provinzen Balkh, Takhar und Samangan sowie Teile der Provinzen Sar-i-Pol und Badakhshan.

Diese Art des Transitionsprozesses bringt mich zu einer zweiten Sorge: Welche Kräfte zu Lande und in der Luft werden die afghanischen Streitkräfte brauchen, um bis 2014 die Sicherheitsverantwortung in den jetzt noch umkämpften Gebieten zu übernehmen, und wie können die notwendigen Fähigkeiten aufgebaut werden, solche Gebiete unter nachhaltige Kontrolle zu bringen? Für ein verschlafenes Dorf reicht vielleicht ein verschlafener Polizist, der auch einmal vergessen kann, seinen Dienst anzutreten. Aber wie sieht das im Herzen der Provinz Helmand aus, wenn starke afghanische Kräfte schon gebunden sind, um in der Fläche der ersten Übergabetranche Stellung zu halten?

Natürlich hängt der Erfolg nicht allein vom Ausbildungsstand und den Qualitäten der afghanischen Polizisten und Soldaten ab. Im neuen Fortschrittsbericht Afghanistan vom Dezember 2011 findet sich dazu ein wichtiger Satz, den ich zitieren möchte:

"Die Fortschritte im Aufbau von Polizei und Armee müssen auch durch Verbesserungen der Regierungsführung sowie durch Fortführung der positiven wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung untermauert werden[...]"

Das ist eine zurückhaltende Ausdrucksweise. Ich formuliere es als unsere dritte Sorge in diesem Zusammenhang anders: Wie lange soll es eigentlich noch dauern, bis Präsident Karzai und seine Leute verstehen, dass ohne eine bessere Regierungsführung, ohne Erfolge im Zurückdrängen von Korruption und Alltagskriminalität, die immer mehr zur Gewalterfahrung der Bevölkerung vor Ort beiträgt, und ohne eine Nulltoleranzpolitik gegen das Netzwerk von Drogenanbau und Drogenhandel ein Regieren in Afghanistan ohne die Unterstützung von fremden Kampftruppen völlig unmöglich ist?

Wir zeigen Respekt für die Arbeit, die im zweiten Fortschrittsbericht Afghanistan dargestellt wird, und wir arbeiten mit dem Sonderbeauftragten, Herrn Botschafter Steiner, gut zusammen. Ich glaube aber, die im Fortschrittsbericht mehrfach beschworene positive Trendwende, die auch Minister Westerwelle eben beschworen hat, wird erst dann eintreten, wenn es überzeugende Antworten auf diese drei Fragen gibt. Daran müssen wir in Zukunft gemeinsam verstärkt arbeiten. Wir sind dazu bereit.

Vielen Dank.

Rede in der Mediathek des Deutschen Bundestags