Gernot Erler in der 123. Sitzung des Deutschen Bundestages, 7. September 2011: Haushaltsberatungen Einzelplan 05 Auswärtiges Amt

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, ich habe vor, tatsächlich über Ihre Außenpolitik zu sprechen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich (DIE LINKE))

Sie haben eben den Beweis dafür erbracht, dass Sie auch nach zwei Jahren noch immer nicht in diesem Amt angekommen sind,

(Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Das wird er auch nicht mehr schaffen!)

obwohl Sie den Titel tragen. Insbesondere die erste Hälfte Ihres Auftretens war eine Zumutung für dieses Hohe Haus.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Außenminister, lange Zeit ist Ihre Außenpolitik von einer Mehrheit der Kommentatoren als konturlos und ohne Wirkung kritisiert worden. Das war zutreffend, aber noch nicht besorgniserregend. Seit März dieses Jahres hat sich das geändert. Inzwischen sind Sie zur Personifizierung einer deutschen Außenpolitik von befremdender Gestalt und verhängnisvoller Wirkung geworden.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben durchgesetzt, dass sich Deutschland am 17. März im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen enthalten hat, als es um den Schutz der libyschen Zivilbevölkerung ging.

(Birgit Homburger (FDP): Weil wir das ablehnen mussten! Da steckt viel Überzeugung dahinter!)

Dabei haben Sie Deutschland in einer noch nicht da gewesenen Weise gleichzeitig von so wichtigen Verbündeten wie den Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien entfernt. Das von Ihnen verweigerte Ja zur Resolution 1973 hat nachweislich dazu geführt, dass ein bevorstehendes Massaker an der Zivilbevölkerung von Bengasi, einer Stadt mit 700 000 Einwohnern, erst in letzter Minute verhindert wurde.

(Widerspruch bei der FDP - Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Wie war denn Ihre Position!)

Die Problematik dieser Entscheidung ist seither in der deutschen Öffentlichkeit ausreichend diskutiert worden. Auf Ihre Haltung hat das keinerlei Wirkung gehabt. Der Begriff „Einsicht" taucht in Ihrem Reaktionsrepertoire offensichtlich grundsätzlich nicht auf.

Ich möchte mich deshalb auf einen anderen Punkt konzentrieren, nämlich darauf, dass Sie in der Folge Ihrer Entscheidung die ganze deutsche Außenpolitik auf die schiefe Bahn gebracht haben. Das fing damit an, dass Sie am 17. März ein innenpolitisches Kalkül - den Blick auf die Wahlen vom 27. März - zur Grundlage Ihrer Entscheidung gemacht haben. Je offensichtlicher dieses Kalkül nicht aufging, desto rascher sind Sie auf dieser schiefen Bahn vorangeeilt. Um dem wachsenden Rechtfertigungsdruck zu begegnen, fingen Sie an, unsere Verbündeten, die sich zu einem militärischen Vorgehen entschlossen hatten, quasi von außen zu kritisieren. Als das auch nicht weiterhalf, präsentieren Sie einer ziemlich sprachlosen Öffentlichkeit plötzlich eine Neuorientierung der deutschen Außenpolitik: Die Welt habe sich verändert, es gebe neue Kraftzentren, etwa um China und Russland, und auf diese müsse sich die deutsche Außenpolitik stärker ausrichten. In diesem Lichte erschien die Konstellation vom 17. März - die Entfernung von Paris, London und Washington und die Abstinenz gemeinsam mit China und Russland - plötzlich nicht mehr als unglücklicher Umstand, sondern sie war gewollt; das war der Beginn einer Neuorientierung der deutschen Außenpolitik. Als dann nach fünf schwierigen Monaten die libyschen Rebellen mithilfe der NATO das Gaddafi-Regime endlich vertreiben konnten, haben Sie diesen späten Erfolg nicht etwa anerkannt, sondern für Ihre nichtmilitärische Sanktionspolitik reklamiert - eine neue Provokation, speziell der Verbündeten, aber auch allgemein des gesunden Menschenverstandes.

Herr Westerwelle, damit haben Sie das Fass zum Überlaufen gebracht, selbst in Ihrer eigenen Partei. Herr Rösler zog die Reißleine und hat Sie zum Außenminister auf Bewährung degradiert - ein echtes Novum in der deutschen politischen Kultur;

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

denn plötzlich liegt die Richtlinienkompetenz für die deutsche Außenpolitik beim FDP-Vorsitzenden und nicht mehr im Kompetenzzentrum am Werderschen Markt.

Wenn man sich das Ganze anschaut, muss man sagen: Vor allen Dingen ist es ein Tiefpunkt, dass die jetzt aus dem Hut gezauberte Reorientierung der deutschen Außenpolitik auf neue Kraftzentren der Welt Ihre Politik erklären sollte. Dieser Kurswechsel war als gar nichts anderes als eine nachträgliche Plausibilitätserklärung für die Entscheidung des 17. März verstehbar, die im In- und Ausland eine katastrophale Diskussion zur Verlässlichkeit Deutschlands als Partner ausgelöst hat.

In welche gefährliche Ecke uns diese schiefe Bahn geführt hat, kann man daran sehen, dass sich gleich zwei ehemalige Bundeskanzler, Helmut Kohl und Helmut Schmidt, veranlasst sahen, in genau dieser Situation das Wort zu ergreifen. Diese Wortmeldungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, waren nicht beiläufig; hinter ihnen wurde eine echte Sorge spürbar, nämlich die um den Grundkonsens in der Außenpolitik der Bundesrepublik, der jahrelang parteiübergreifend gegolten hat.

Deutschland, mit seiner Verantwortung für zwei Weltkriegskatastrophen im vergangenen Jahrhundert als historisches Gepäck und als stärkstes und bevölkerungsreichstes Land Europas muss bei der Selbstintegration in die beiden großen kollektiven Systeme, nämlich in die westliche Allianz und die Europäische Union, immer vorangehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Diese Selbstintegration bedeutet eine bewusste Einschränkung unserer Souveränität, bedeutet die gewollte Unterordnung im Kollektiv mit einer starken Rolle unserer Partner und bedeutet Verzicht auf jeden Sonderweg. Ich finde es schon erstaunlich, dass Sie hier von Konstanten deutscher Außenpolitik reden und gar nicht merken, dass Sie in den letzten Monaten der größte Beschädiger dieser Konstanten gewesen sind.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Nur in der Befolgung dieser Prinzipien hat Deutschland nach 1945 seinen Weg zurück in die europäische Völkerfamilie gefunden; darauf haben die beiden Bundeskanzler hingewiesen. Nur so konnte ein Vertrauen bei unseren westlichen und östlichen Nachbarn aufgebaut werden, ohne das es nie zu einer Wiedervereinigung gekommen wäre. Nur so wird Deutschland seiner Mitverantwortung für ein starkes und handlungsfähiges Europa gerecht.

Verlässlichkeit und Vertrauen kann man verspielen, vertändeln durch Beliebigkeit und Unberechenbarkeit, durch unvorbereitete Neuorientierungen der deutschen Außenpolitik. Herr Außenminister, bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass weder die deutsche noch die internationale Öffentlichkeit Ihnen zutraut, all das wieder zurechtzubiegen.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben Sie in der Sache kritisiert; aber Ihre eigenen Leute haben Sie gnadenlos in Ihrer Funktion demontiert.

(Zuruf von der SPD: Das stimmt! - Zuruf von der FDP: Blödsinn!)

Ihre liberalen Freunde waren es, die Sie zu einem Außenminister auf Abruf degradiert haben. Da schließt sich der Kreis zum 17. März: Wieder steht ein kurzfristiges innenpolitisches Kalkül hinter der Entscheidung Ihrer Parteifreunde, Sie noch ein Weilchen Außenminister sein zu lassen. Ich kann das nur als äußerst deprimierend bezeichnen, für Sie, für das kompetente und engagierte Amt, dem Sie vorstehen, und für Deutschlands Ansehen in Europa und der Welt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es gibt nur einen logischen Schluss aus dieser verheerenden Bilanz: die Aufforderung an Sie, endlich selber die Konsequenzen zu ziehen und nicht zu warten, bis dies andere für Sie tun.

(Beifall bei der SPD)