Gernot Erler in der 117. Sitzung des Deutschen Bundestages, 30. Juni 2011: 70. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der 22. Juni wäre prädestiniert als ein trauriger Gedenktag für eines der düstersten Kapitel der deutschen Geschichte. Dieser Tag erinnert uns daran, dass von ihm vor genau 70 Jahren unendliches Leid ausging, begleitet von schwer begreifbaren Verbrechen. Der Krieg gegen die Sowjetunion war ein rassistischer Vernichtungskrieg. Er sollte für die Deutschen Lebensraum im Osten erobern, die angebliche Judenherrschaft in Russland brechen und die minderwertige slawische Rasse dezimieren und hinter den Ural verdrängen.

Die Verbrechen verteilen sich auf die vier Jahre zwischen 1941 und 1945, vom Anfang bis zum Ende. Ihr Ausmaß wird in Zahlen festgehalten, die unsere Vorstellungskraft überfordern: 27 Millionen getötete Menschen in dem überfallenen Land, davon 14 Millionen Zivilisten. Das bedeutete mindestens einen Trauerfall in praktisch jeder Familie. Hinter diesen Zahlen verbergen sich unauslöschliche Erinnerungsbilder von traumatischen Erlebnissen. Dazu gehören die sofortige Erschießung aller gefangen genommenen Politoffiziere der Sowjetarmee nach dem sogenannten Kommissarbefehl, der mindestens 7 000 Opfer forderte, die grausame, auf Vernichtung zielende Behandlung von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen fast 60 Prozent ihre Gefangenschaft nicht überlebten, und die systematische Liquidierung von 2,5 Millionen Juden in den eroberten Gebieten. Im Zuge dieser rassenideologischen Vernichtungspolitik wurden schon ab August 1941 ganze Gemeinden ausgelöscht. Die Schlucht von Babi Jar bei Kiew, in der allein am 29. und 30. September 1941 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder erschossen wurden, steht als ein Erinnerungsort für Hunderte anderer. Dazu gehören auch der Versuch, im Winter 1941/42 das eingeschlossene Leningrad, die zweitgrößte Stadt der Sowjetunion, schlicht verhungern zu lassen, mit mindestens 800 000 Toten in den 900 Tagen der Belagerung, die Verschleppung von 2,8 Millionen Sowjetbürgern als Zwangsarbeiter und ihre rücksichtslose und erniedrigende Behandlung und dann, während des Rückzugs, die Politik der verbrannten Erde, der ganze Dörfer, Städte, Kulturlandschaften und wiederum Millionen von Zivilisten zum Opfer fielen.

Wenn wir heute hier im Deutschen Bundestag an den 22. Juni 1941 erinnern, von dem all dies grausame Geschehen ausging, dann bewegen wir uns auf dem Boden gesicherter Erkenntnisse der Wissenschaft mit vielen Beiträgen auch von deutschen und russischen Historikern. Das war nicht immer so. Nach 1945 ist alles, was mit dem Unternehmen Barbarossa zusammenhing, lange Zeit verdrängt oder verfälscht worden. Es hat lange Zeit gedauert, bis die sogenannte Präventivkriegsthese als Lüge entlarvt und widerlegt wurde. Es hat auch lange gedauert, bis die Legende von der sauberen Wehrmacht korrigiert werden konnte. Das geschah in der breiten Öffentlichkeit erst mit der berühmten Wehrmachtsausstellung nach 1995. Über mehrere Jahrzehnte hinweg schuf der Kalte Krieg für viele ehemalige Täter und Mittäter eine willkommene Legimitation, die alten Feindbilder zu konservieren und dabei von der eigenen Mitverantwortung für die Verbrechen des Krieges gegen die Sowjetunion abzulenken.

Eine überzeugende Aufarbeitung der Geschichte schafft die Voraussetzungen für eine angemessene Erinnerungskultur. Diese Voraussetzungen bestehen heute. Die Erinnerung aber mit Leben zu füllen, das ist eine Herausforderung, der sich jede Generation von neuem stellen muss.

(Beifall im ganzen Hause)

Wenn wir das heute versuchen, müssen wir eigentlich zunächst über ein Wunder sprechen, das Wunder nämlich, dass sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland nach all diesen Traumata der Jahre 1941 bis 1945 über die Jahrzehnte hinweg so positiv entwickelt haben. Wir bezeichnen uns heute wechselseitig als strategische Partner. Umfragen zeigen, dass die übergroße Mehrheit der russischen Bevölkerung ein positives Deutschlandbild pflegt. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen unseren beiden Ländern entwickeln sich gut. Große Erwartungen knüpfen sich an das Projekt der Modernisierungspartnerschaft. Es bestehen über hundert deutsch-russische Städtepartnerschaften. Seit 2001 bemüht sich der Petersburger Dialog, die Zivilgesellschaften beider Länder näherzubringen. Auch in den Kulturbeziehungen haben wir viele Aktivitäten, vom Jugendaustausch über das gerade angelaufene deutschrussische Wirtschaftsjahr bis zu dem für 2012 vorgesehenen Deutschlandjahr in Russland und dem Russlandjahr in Deutschland.

Wenn man sich überlegt, dass es tatsächlich in praktisch jeder russischen Familie ein Kriegsopfer gab, dass noch immer am 9. Mai, dem eigentlichen russischen Nationalfeiertag, der Sieg über Hitler-Deutschland gefeiert wird und an diesem Tag die Veteranen mit ihren Ordensbrüsten das Stadtbild bestimmen und dass all diese schrecklichen Ereignisse, die niemand vergessen kann, von Deutschland ausgingen, dann kann man das real existierende dynamische und positive deutsch-russische Verhältnis von heute nur als Wunder bezeichnen und Dankbarkeit dafür empfinden.

(Beifall im ganzen Hause)

Aber es gibt zum 70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion auch von Schattenseiten zu berichten. Sie betreffen die Aufarbeitung des Unrechts, die Entschädigung der Opfer und die Vollständigkeit der Erinnerungsarbeit. Ich spreche hierbei von Opfergruppen, die bisher zu wenig gewürdigt wurden. Hier stößt man an erster Stelle auf das Schicksal der 5,7 Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, die in doppelter Weise einem grausamen Schicksal unterworfen waren. Ihre Behandlung im deutschen Gewahrsam führte zu der entsetzlich hohen, von mir schon genannten Verlustquote von annähernd 60 Prozent, während die Quote zum Beispiel für Kriegsgefangene aus westlichen Ländern 3,5 Prozent an Opfern nicht überstieg.

Die Russen, die ihre Kriegsgefangenschaft überlebten, fanden zu Hause zunächst einmal für lange Zeit Ächtung, Ausgrenzung, ja, in vielen Fällen sogar eine Fortsetzung von Lagerhaft in dem System des stalinistischen Gulag vor. Es dauerte bis zum 24. Januar 1995, bis Präsident Jelzin ein Dekret zur Wiederherstellung der gesetzmäßigen Rechte der russischen Kriegsgefangenen unterzeichnete, wodurch sie wenigstens den Status von Kriegsteilnehmern erhielten und ihre negative Sonderstellung in der Gesellschaft beendet wurde.

Aber die ehemaligen Kriegsgefangenen erhielten weder Zugang zu den 1991 und 1993 eingerichteten Stiftungen in Moskau, Kiew, Minsk und Warschau, in die Deutschland 766 Millionen Euro zur Weitergabe an Opfer des Nationalsozialismus einzahlte, noch zu der im Jahr 2000 gegründeten Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", die zwischen 2001 und 2007 Auszahlungen in Höhe von 4,4 Milliarden Euro an 1,6 Millionen Opfer in 100 verschiedenen Ländern vornahm, hauptsächlich an Menschen, die als Zwangsarbeiter für Deutschland gelitten hatten, ausdrücklich aber nicht an die Kriegsgefangenen, deren Leistungsberechtigung in § 11 der Stiftungssatzung ausdrücklich ausgeschlossen wurde.

Immer wieder wird völkerrechtlich darauf verwiesen, dass Kriegsgefangene eben Opfer des sogenannten allgemeinen Kriegsschicksals seien und dass ihre Entschädigung insofern Sache ihrer Herkunftsländer sei, die dafür Mittel aus Reparationszahlungen nutzen müssten. Aber trifft diese Einordnung ins allgemeine Kriegsschicksal tatsächlich auf die sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand zu, auf Menschen, die in Güter- und Viehwaggons transportiert wurden, die häufig und auch zu Winterzeiten im Freien untergebracht wurden und die in den berüchtigten Mannschaftslagern, in den Stalags, von völlig unzureichender Ernährung, von Hunger, schwerster Zwangsarbeit sowie Krankheiten und Seuchen in so erschreckend großer Zahl dezimiert wurden?

Längst ist erwiesen, dass sich die Unterscheidung von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen auf der einen Seite und Kriegsgefangenen auf der anderen Seite so nicht aufrechterhalten lässt. Das wird auch durch drei neuere Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages aus den Jahren 2010 und 2011 bestätigt, die im Zusammenhang mit einer Petition in Sachen Entschädigung der Kriegsgefangenen erstellt worden sind. Diese Petition liegt dem Deutschen Bundestag seit September 2006, also seit jetzt annähernd fünf Jahren, vor und wurde bis heute nicht abgeschlossen. Eingereicht hat sie die Organisation KONTAKTE-KOHTAKTbl, die sich in bewunderungs- und unterstützungswürdiger Weise der noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen annimmt. Ich finde, das ist ein Grund, auch einmal von diesem Haus aus einen herzlichen Dank an diese engagierten Zeitgenossen zu sagen.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Leute von KONTAKTE zahlen aus privaten Stiftungsgeldern Einmalsummen von 300 Euro an die Betroffenen aus und übersenden dieses Geld verbunden mit einem persönlichen Anschreiben. Es ist berührend, wenn man sieht, wie häufig auf diese eher symbolische Anerkennung des Leidens ausführliche Dankschreiben zurückkommen.

Es ist wirklich Zeit, zu versuchen, hier zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Wir können dieses Thema nicht allein engagierten Privatpersonen überlassen oder gar auf die bevorstehende biologische Erledigung setzen. Wir sollten einen gemeinsamen Weg finden und uns gerade durch den 70. Jahrestag des 22. Juni 1941 dazu mahnen lassen, zumindest einen Weg für eine Geste des Bedauerns und der Anerkennung des Leids der vergessenen Opfer des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion zu finden. Dass zu diesen die 14 Millionen Zivilopfer, aber eben auch die über 3 Millionen umgekommenen Kriegsgefangenen gehören, daran hat uns gerade wieder ein Appell von Aktion Sühnezeichen zusammen mit vier weiteren Organisationen eindringlich gemahnt; das Memorandum trägt den Titel „Aus dem Schatten der Erinnerung".

Es wäre gut - damit möchte ich schließen -, wenn unsere heutige Debatte uns alle motivierte, es nicht weiter zuzulassen, dass wir auch 70 Jahre nach dem 22. Juni 1941 noch von vergessenen Opfern in diesem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion sprechen müssen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)