Gernot Erler in der 85. Sitzung des Deutschen Bundestages, 21. Januar 2011: Ziviler Wiederaufbau in Afghanistan

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles hat sich im vergangenen Jahr verändert. Unter dem Druck der problematischen, teilweise dramatischen Entwicklung vor Ort ist die Afg­hanistan-Politik in den Vereinigten Staaten, in der Gemeinschaft der 48 Länder, die sich vor Ort engagieren, und auch in Deutschland neu ausgerichtet worden. Meine Partei, die SPD, hat dazu wirksame Anstöße gege­ben, nicht zuletzt durch zwei große Afghanistan-Konferenzen im Januar und im Dezember 2010. Im Zuge die­ses Veränderungsprozesses, dieses Umdenkens, ist auch ein neuer Konsens entstanden, so darüber, dass ein militärischer Sieg über die Aufständischen in Afghanistan ausgeschlossen erscheint, dass deshalb nur eine politische Lösung möglich ist, die mit dem Abschied von einigen langgehegten Illusionen einhergeht, und dass sichtbare Erfolge und Fortschritte bei dem Wiederaufbau und der Entwicklung Afghanistans bei einer solchen politischen Lösung eine außerordentlich wichtige Rolle spielen.

Das war der Hintergrund für unsere Forderung vom Januar letzten Jahres, die eingesetzten Mittel für den zi­vilen Wiederaufbau Afghanistans zu verdoppeln. Wir begrüßen es, dass die Bundesregierung dieser Aufforde­rung gefolgt ist und die Mittel für den zivilen Aufbau für die Jahre 2010 bis 2013 auf 430 Millionen Euro jährlich angehoben und damit beinahe verdoppelt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zugleich bedauern wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Regierungskoalition nicht dazu ent­schließen konnte, den gesamten deutschen Afghanistan-Einsatz einer unabhängigen fachlichen Evaluierung zu unterziehen, unter Heranziehung nicht nur wissenschaftlicher Expertise, sondern auch der praktischen Er­fahrungen von Entwicklungsexperten, von NGOs und Mittlerorganisationen, die vor Ort tätig sind, wie wir es vorgeschlagen haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Immerhin: Wir haben im Dezember einen „Fortschrittsbericht Afghanistan" von 108 Seiten erhalten, der sich auf 20 Seiten auch dem Thema „Wiederaufbau und Entwicklung" widmet. Dieser Fortschrittsbericht enthält zahlreiche Daten und Fakten, er geht auch auf Fehlentwicklungen und Defizite ein, und er stellt jede künftige Diskussion über unseren Einsatz in Afghanistan auf eine bessere Grundlage, was aktuelle Sachstände und Fakten angeht. Sehr gerne haben wir auch die ausdrückliche Kooperationsbereitschaft von Botschafter Mi­chael Steiner, dem Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan, was Rückfragen und Auskünfte angeht, angenommen.

Aber trotzdem müssen wir feststellen, dass wir mit der Ausweitung und Aufwertung des zivilen Aufbaus noch längst nicht da sind, wo wir hinwollen und hinmüssen. Es sind gerade die Berichte der Entwicklungsexperten, der Nichtregierungsorganisationen und der Mittlerorganisationen von ihrer konkreten Arbeit vor Ort, die sich leider nicht in dem nötigen Ausmaß in dem Fortschrittsbericht wiederfinden ‑ auch nicht in Ihrer Regierungser­klärung, die Sie heute abgegeben haben ‑, die zum Teil zu völlig anderen Lageeinschätzungen führen und die einige dringend zu lösende Probleme benennen. Herr Minister, das ist nicht Schwarzmalerei, und das ist auch nicht das Schlechtreden von Erfolgen. Ich will das an zwei kurzen Beispielen hier zeigen.

Ein Thema, das in unseren Gesprächen mit den Entwicklungsorganisationen immer wieder angesprochen wurde, ist, Herr Minister, Ihre Doktrin von der sogenannten vernetzten Sicherheit, die bei den Betroffenen auf breite Ablehnung stößt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Nicht das ist unverständlich, wie Sie das hier gesagt haben, sondern Ihre Sturheit bei der Doktrin der ver­netzten Sicherheit ist unverständlich. Ich fordere Sie, Herr Minister, in aller Deutlichkeit auf: Hören Sie auf, Druck auf NGOs zu machen, sich in voller Sichtbarkeit in den Dienst militärischer Ziele zu stellen!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Beenden Sie die damit verbundene Instrumentalisierung des zivilen Aufbaus! Erkennen Sie endlich an, dass der zivile Aufbau im Rahmen der veränderten Afghanistan-Strategie einen erweiterten Eigenwert hat! Akzep­tieren Sie die jahrzehntelangen Erfahrungen dieser Entwicklungsorganisationen, und lassen Sie sie selbst entscheiden, wie sie ihre Arbeit machen wollen! Sie wissen am besten, wie sie das in größter Sicherheit tun können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Mehrere Organisationen haben uns versichert, Herr Minister, dass sie weder etwas gegen die Bundeswehr haben, noch eine Kooperation ablehnen. Aber sie halten Ihre Doktrin für kontraproduktiv.

Sie ist es, nebenbei gesagt, auch für die Zukunft. Inzwischen gibt es ja den internationalen Konsens ‑ Sie ha­ben das angesprochen ‑, dass bis 2014 die Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände übergehen soll und dann keine Kampftruppen mehr vor Ort eingesetzt werden sollen. Zugleich versichern wir unseren afgha­nischen Freunden, dass unser Engagement vor Ort deswegen nicht endet, sondern dass der zivile Aufbau fortgesetzt werden soll. Mit anderen Worten: Dann ist die Bundeswehr weg, die Entwicklungsorganisationen sind aber noch da. Was ist dann mit Ihrer Doktrin von der vernetzten Sicherheit?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt noch ein zweites Feld dringenden Handlungsbedarfs. Wenn man dem Fortschrittsbericht folgt, dann sind allein zwischen 2002 und 2008 nicht weniger als 20 Milliarden Dollar an offizieller Entwicklungshilfe nach Afghanistan geflossen. In den letzten beiden Jahren sind die Jahresraten sogar gestiegen, auch durch die Verdoppelung des deutschen Anteils. Diese umfangreichen Leistungen schlagen sich aber nicht nieder in ei­nem breiten Vertrauen der Menschen in ihre eigene Regierung, in die internationale Gebergemeinschaft und in ihre eigene Zukunft. Eigentlich sollte man das erwarten. Es ist aber nicht der Fall.

Der Hauptgrund dafür ist die ungezügelte Korruption. Ich wundere mich schon, Herr Niebel, dass dieser Be­griff in Ihrem Bericht überhaupt nicht vorkommt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Korruption würgt alle Erfolge des zivilen Aufbaus ab wie ein gefährlicher Parasit. Das Bild von mit Geld prall gefüllten Koffern, die über den Kabuler Flughafen rollen, von niemandem an ihrer Reise gehindert, frisst sich in die Köpfe auch all derer, die sich eigentlich über den Bau einer neuen Schule in ihrem Dorf freuen könnten, aber es dann nicht mehr tun.

Wir müssen tatsächlich alles versuchen, um das endlich zu ändern. Wenn wir das nicht schaffen, werden auch alle künftigen Fortschrittsberichte zum zivilen Aufbau an den wahrgenommenen Realitäten vorbeischlit­tern. Das ist eine Aufgabe, ohne die ein Erfolg in diesem wichtigen, von uns als am wichtigsten betrachteten Bereich des zivilen Aufbaus nicht zu sichern ist.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)