Erler: Die Politik droht in Rituale zu verfallen

Gernot Erler zum Petersburger Dialog im Interview mit der Nordsee-Zeitung, 20. Juli 2011

Berlin. Der Russland-Experte und SPD-Fraktionsvize Gernot Erler plädiert für eine Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Berlin und Moskau, bei der die Menschenrechte nicht zu kurz kommen dürfen. Mit Erler, der auch im Lenkungsausschuss des Petersburger Dialogs sitzt, sprach unser Korrespondent Stefan Vetter.

Vetter: Herr Erler, Kritiker auch aus Ihren Reihen sehen im Petersburger Dialog nur noch eine politische Show-Veranstaltung. Teilen Sie diese Einschätzung?

Erler: Nein, diese Kritik ist überzogen. Der Petersburger Dialog ist eine Plattform, auf der sich Positives entwickeln kann. Dazu zählen der deutsch-russische Jugendaustausch und eine intensive Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlichen Organisationen. Ein gutes Beispiel ist hier das Koch-Metschnikow-Institut zur medizinischen Forschung.

Vetter: Ursprünglich war der Petersburger Dialog als zivilgesellschaftliches Forum gedacht. Warum sucht man dort unbequeme Geister praktisch vergebens?

Erler: Ich räume ein, es gibt ein ständiges Ringen über die Liste der Einzuladenden, wobei wir natürlich ein Interesse daran haben, dass auf beiden Seiten auch kritische Vertreter mit dabei sind. Wir hatten auch schon kontroverse Diskussionen zum Beispiel mit Vertretern der Menschenrechtsorganisation Memorial in Anwesenheit des damaligen russischen Präsidenten Putin. Dieser offene Dialog muss erhalten bleiben.

Vetter: Aber ist der nicht schon verloren gegangen?

Erler: Die Gefahr besteht, dass sich offizielle Politik selbst genügt und in bloße Rituale verfällt.

Vetter: War es da klug, den Petersburger Dialog mit den deutsch-russischen Regierungskonsultationen zu verknüpfen?

Erler: Eine Mehrheit im Lenkungsausschuss, die vor allem durch unsere russischen Kollegen zustande kommt, befürwortet diese Koppelung. Natürlich steckt da auch der Gedanke dahinter, dass mit der Anwesenheit höchster politischer Prominenz auch ein Stück Glanz auf den Petersburger Dialog fällt. Hier spiegelt sich die Widersprüchlichkeit der ganzen Anlage des Petersburger Dialogs, nämlich einerseits den kritischen Teil der Gesellschaft zu berücksichtigen und andererseits eine offizielle politische Veranstaltung daraus zu machen.

Vetter: Man hat den Eindruck, dass in den deutsch-russischen Beziehungen nur noch wirtschaftliche Interessen dominieren. Kommen die Menschenrechte zu kurz?

Erler: Das ist in der Tat der Fall. Die Menschenrechte, die gesellschaftliche Entwicklung in Russland, und was Deutschland dazu beitragen kann, sind in den letzten Jahren in den Hintergrund gerückt.

Vetter: Brauchen wir eine Neuausrichtung der deutsch-russischen Beziehungen?

Erler: Ja, wir brauchen eine Neuausrichtung, ohne jedoch die Menschenrechte gegen eine für beide Seiten vorteilhafte wirtschaftliche Kooperation auszuspielen. Im Jahr 2008 hatte der damalige Außenminister Steinmeier eine Modernisierungspartnerschaft angeregt, die auch gesellschaftliche Modernisierung, also Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Justiz, einschließt. Dieser Ansatz ist von der schwarz-gelben Bundesregierung leider nicht weiter verfolgt worden. Und das, obwohl führende Politiker in Moskau den Wert einer solchen Modernisierung erkannt haben.

Vetter: Hat das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau durch die Absage der Quadriga-Verleihung an Ministerpräsident Putin Schaden genommen?

Erler: Zweifellos hat das Verhältnis dadurch Schaden genommen. Aber beide Seiten sind ganz offensichtlich bemüht, diesen Schaden zu begrenzen.