Irans Oppositionelle beweisen großen Mut

Interview mit dem Radiosender Deutschlandfunk vom 16. Juni 2009 

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt, im Gespräch zur aktuellen Lage mit Stefan Heinlein

Gernot Erler (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt, hält Wahlmanipulationen bei den Präsidentschaftswahlen im Iran für wahrscheinlich. Momentan erinnere die Lage im Land sehr stark an eine vorrevolutionäre Situation. Von einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen riet Erler ab. Damit gebe man Einflusschancen auf, die das Schlimmste verhindern könnten.

Stefan Heinlein: Trotz Verbot, trotz brutaler Übergriffe der Sicherheitskräfte gehen die Proteste im Iran weiter. Nach jüngsten Meldungen gab es zahlreiche Tote bei den Demonstrationen. Die Opposition lässt sich dennoch nicht mundtot machen. Die Mussawi-Anhänger fordern weiter eine Annullierung der Wahlen. Präsident Ahmadinedschad lässt sich davon nicht beeindrucken. Am Morgen ist er zu einem Besuch in Russland eingetroffen. Eine ungehinderte Berichterstattung aus Teheran ist derzeit nur schwer möglich.

Am Telefon in Berlin nun der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler (SPD). Guten Morgen, Herr Erler.

Gernot Erler: Guten Morgen, Herr Heinlein.

Heinlein: Der iranische Botschafter wurde gestern zu Ihnen ins Auswärtige Amt einbestellt. Wie deutlich wurde dem Diplomaten die Meinung gesagt?

Erler: Das wurde gemacht mit drei Punkten. Zunächst einmal wurde protestiert gegen die Behinderung der Arbeit auch von deutschen Journalisten und auch gegen einzelne Angriffe auf Wagen des Diplomatischen Korps. Dann wurde das Land aufgefordert, die Menschenrechte und die Bürgerrechte jetzt zu beachten. Wir haben ja gerade gehört, in welch großem Umfang das nicht der Fall ist. Und schließlich wurde er auch aufgefordert, die Vorwürfe von Wahlmanipulationen aufzuklären, und die Einberufung eines Botschafters ist ja sozusagen die deutlichste Möglichkeit, die der Diplomatie zur Verfügung steht, um solche Proteste an den Mann zu bringen.

Heinlein: Und wie hat der Botschafter reagiert?

Erler: Darüber liegen jetzt keine Informationen vor. Das ist auch nicht üblich, so etwas öffentlich zu machen.

Heinlein: Sie haben es gesagt, Herr Erler: Die freie Berichterstattung aus dem Iran ist derzeit behindert. Wie gut sind Sie denn aktuell über die Situation im Lande informiert?

Erler: Es ist auffällig, dass zwar erhebliche Behinderungen stattfinden, dass aber eine lückenlose Unterdrückung von Informationen nicht möglich ist. Wir bekommen ja auch viel Bildmaterial aus dem Land und offensichtlich bestehen auch Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Demonstrationen und den Oppositionellen, die ja auffälligerweise vor allem in den Städten stattfinden, und das ist ja auch nachvollziehbar, denn gerade die städtische Bevölkerung, das Bürgertum und die Intelligenz, sind erstens sehr stark von der Krise im Land, auch von den Nichtleistungen der Regierung Ahmadinedschad betroffen, sie sind am meisten auch von der Wirtschaftskrise, die voll angekommen ist im Iran, betroffen und wissen natürlich genau, dass die politische Isolierung, in die Ahmadinedschad das Land geführt hat, all diese Faktoren zu Lasten der Bevölkerung verstärkt.

Heinlein: Wie sicher, Herr Erler, ist nach deutschen, nach Ihren Informationen die wahrscheinliche Wahlmanipulation?

Erler: Wir haben nun wirklich sehr viele Informationen darüber bekommen. Es hat eine eigentlich viel zu frühe Verkündung eines Endergebnisses gegeben, wo noch gar nicht ausgezählt sein konnte. In der Addition hat es einmal 108 Prozent, einmal 94 Prozent gegeben. Auffällig ist auch, dass anscheinend überall im Land nach diesen Zählungen dasselbe Ergebnis herausgekommen ist, immer etwa 62 zu 32 zugunsten des amtierenden Präsidenten, und wir haben viele Berichte, dass gerade in den Hochburgen der Opposition es entweder schon gefüllte Wahlurnen am Anfang der Auszählung, des Wahlvorgangs gab, oder aber fehlende Stimmzettel. Das alles sind ja deutliche Hinweise auf Unregelmäßigkeiten und deswegen konnte wohl auch der geistliche Führer Khamenei gar nicht anders, als die sehr strikten Forderungen der Kandidaten, eine Überprüfung vorzunehmen, nun als Auftrag an den Wächterrat zu geben.

Heinlein: Haben Sie denn Hoffnungen, dass dieser Wächterrat, das höchste Gremium des Landes, tatsächlich eine objektive Prüfung dieser Wahlen durchführen wird?

Erler: Ich glaube, das wird eher davon abhängen, wie es weitergeht. Wenn es der Opposition gelingt und der Mut der Betroffenen, der beeindruckend ist, sich weiter fortsetzt, also auch der Kandidaten, und die Straße nicht zur Ruhe kommt, wo ja auch solche Rufe wie "Allah hu akbar" von den Dächern und auf den Straßen zu hören sind, was sehr stark an eine vorrevolutionäre Situation erinnert, dann könnte man sich auch vorstellen, dass ernsthaft mit diesen Vorwürfen umgegangen wird unter dem Druck von dieser Situation. Es könnte aber genauso sein, dass das Regime die großen Reserven des Repressionsapparates erfolgreich einsetzt, und dann wird man sich wahrscheinlich in einer dann mit Gewalt beruhigten Situation nicht viel erwarten können von einer Überprüfung des Wahlergebnisses.

Heinlein: Also Bürgerkrieg oder Revolution, das sind die beiden Möglichkeiten?

Erler: Das ist weit überspitzt, aber trotz allem: Es ist eine nach meiner Beobachtung jedenfalls sehr kritische Situation, die auch ein bisschen erinnert an die letzten Jahre der 70er-Zeit, als die Revolution gegen den Schah gemacht wurde, und es ist auffällig, dass die Rufe identisch sind, was wohl bedeutet, dass die Betroffenen die Situation ganz bewusst gleichsetzen wollen mit der von der Ayatollah-Khomeini-Revolution.

Heinlein: Haben Sie sich die Frage schon einmal gestellt, Herr Erler, vielleicht ist Mussawi und seine Anhänger, vielleicht sind sie einfach nur schlechte Verlierer, denn außerhalb der Städte, in den ländlichen Regionen, ist der Präsident ja durchaus populär.

Erler: Was dagegen spricht ist der Mut, den sie haben. Es ist ja nicht so ganz ohne Risiko, auf die Straße zu gehen, es ist nicht ohne Risiko, als Kandidat sich sozusagen außerhalb des Establishments zu stellen und Proteste nicht nur anzumelden, sondern auch bei ihnen zu bleiben. Dass Mussawi gestern zum Beispiel gegen das Verbot gehandelt hat, überhaupt zu demonstrieren, das ist ein Zeichen, dass es um etwas mehr geht als bloß um die Frage der persönlichen Interessen.

Heinlein: Dürfen sich denn Deutschland, darf sich die Weltgemeinschaft in die inneren Angelegenheiten des Iran einmischen? Gibt es da nicht Grenzen, die man nicht überschreiten darf?

Erler: Das ist durchaus der Fall, aber meiner Beobachtung nach passiert das ja auch. Es ist in vielen Ländern Ähnliches passiert wie in Deutschland. Ich sagte schon, das ist schon ein sehr deutliches Zeichen des Protestes und auch der Besorgnis, wenn man die Botschafter einbestellt und auch sehr konkret jetzt hier Forderungen stellt. Es sieht so aus, dass das auch nicht ganz ohne Wirkung ist. Zwar gibt es immer noch Berichte von Behinderungen von Berichterstattung, aber einige Ankündigungen, was Ausweisung, was völliges Verbot von Tätigkeit angeht, sind auch nicht verwirklicht worden. Das heißt, der Iran insgesamt ist natürlich auch, was sein Prestige angeht, was seine Interessen angeht, die immer wieder bekundet wurden, doch in nähere Zusammenarbeit mit Europa, mit Deutschland zu treten, durchaus in einer widersprüchlichen Situation und hat also auch hier was zu verlieren in dieser Situation.

Heinlein: Wird in Berlin, wird im Auswärtigen Amt über einen Abbruch der diplomatischen Beziehungen nachgedacht, sollte die Situation weiter eskalieren?

Erler: Ich glaube, das wäre eine völlig falsche Reaktion, denn wir müssen gerade jetzt unsere Kontakte, unsere Möglichkeiten und auch unsere Einflusschancen nutzen, um das Schlimmste zu verhindern, und dem Regime immer wieder klarzumachen, dass es noch weiter in eine Isolierung gerät, wenn es diese berechtigten Forderungen nach Einstellung der Behinderung der Journalisten, nach Beachtung der Bürgerrechte und auch nach Überprüfung dieser Wahlvorgänge nicht wahrnimmt.

Heinlein: Aber Herr Erler, kann man mit einer Regierung, die Wahlen manipuliert, die Demonstranten niederknüppelt und die Pressefreiheit behindert, weiter Kontakte pflegen? Kann man einfach so weitermachen wie bisher?

Erler: Wir machen nicht weiter wie bisher, aber die Erfahrung sagt ja, dass ein Abbruch meistens dazu führt, dass man völlig ohne Einfluss ist, und ich kann nicht erkennen, dass wir alle unsere Möglichkeiten bisher hier schon ausgeschöpft hätten. Wie gesagt, der Iran hat erhebliche Interessen an Kontakten mit der Welt, er ist ein so weit vernetzter Staat auch mit der Weltwirtschaft, dass er im Augenblick ja auch stark betroffen ist von der Entwicklung etwa auf den Ölmärkten, der Haupteinnahmequelle des Landes, und deswegen dringend eigentlich auch den Kontakt mit der westlichen Welt, auch die Wirtschaftskontakte braucht. Diesen Hebel, den sollte man nicht ohne Zwang aus der Hand legen.

Heinlein: Heute Morgen im Deutschlandfunk Staatsminister Gernot Erler. Ich danke, Herr Erler, für das Gespräch und auf Wiederhören nach Berlin.

Erler: Auf Wiederhören.